II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 205

W
24. Das seite Land
Feuilleton.
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Berliner Cheaterbrief.
Von
Hermann Kienzl.
Von den dreizehn Paten, die Artur Schnitz¬
Tragikomödie Das weite Land am 14. Ok¬
aus der Feuertaufe hoben, war einer das Berliner
g=Theater. Ob der äußere Erfolg etwa in einer
en Stadt größer gewesen — die Bühne Otto
ms hatte einen ihrer ganz großen Tage. Diese
heit, Abgestimm. heit und Verschlungenheit des Zu¬
enspiels kann nicht übertroffen werden. Am Wiener
theater z. B. ahnt man nichts von der Voll¬
hienheit eines solchen Ensembies, von der stillen
krlichkeit und unbeirrbaren Natürsichkeit eines Stils,
jeder theatralische Makel, ja fast schon der Wunsch
lauter Resonanz im Publikum genommen zu sein
t. Hinter der jüngsten Großtat des Lessing=Thea¬
sie erinnerte an glorreiche Zeiten! — schlich die
e: Wenn es wahr werden sollte, daß Dr. Brahm
Fahre 1914 sein Werk verläßt, so wird das Sprich¬
lügen, daß kein Mensch unersetzlich sei.
Warum gilt heute das erste Wort den Schauspielern?
es fast ein Wunder ist, wie sie, die dem Theater
en, ein Stück, das seinem Wesen nach dem Thea¬
schen so unendlich ferne ist, vor dem Theater be¬
ten; weil die Reinheit ihrer nachempfindenden Kunst
Tichterwerk gerettet hat, das für die Bühnen im
meinen verloren ist. Der Name Schnitzler oder
ine starke Szenen mögen da oder dort einen Erfolg
hhieden haben. Doch ich spreche nicht vom Beifall
in Berlin maßvoll und einmütig war); ich spreche
der künstlerischen Rettung.
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S
Frau Genia scheint den Ehebruch zu wählen, weil ihre
Ich liebe, ich bewundere sie, die unendlich zarte
Treue sie dem Manne entfremdet hat. So glaubte
Hand Schnitzlers! Ihr ist, wie der Hand eines genialen
der Mann. Doch ihre Untreue erträgt er, der treu¬
Geburtshelfers (auch eines Künstlers unter Handwer¬
los=getreue Zyniker, nicht. Er schießt den jungen Fähn¬
kern .....), eine feingliedrige Schlankheit und schonungs¬
rich, das Opfer fremder Herzenswirrungen, nieder.
volle Milde eigen. Diese Dichterhand dringt tastend in
Befreit ihn das gewalttätige Bekenntnis? Nein, jetzt
die verschlossenen Organe der Menschen ein, zu den
erst hat er sich ganz verloren und die Frau verioren.
Geheimnissen innerster Wunden. Der Mensch weiß
Ein Bankerott.
nichts von sich selbst. „Sollte es Ihnen noch nicht
Man muß die Freunde, da man sie nicht zur
aufgefallen sein,“ sagt eine Person des Schauspiels,
Offenbarungsquelie des Lessing=Theaters führen kann,
„was für komplizierte Subjekte wir Menschen im Grunde
auf das Buch verweisen. (Es ist bei S. Fischer, Ber¬
sind? So vieles hat zugleich Raum in uns! Wir ver¬
lin, erschienen.) Doch — auch die Feinspurigsten unter
suchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es
den Lesern wie unter den Zuschauern, werden in der
geht, wir stelien Begriffe auf, geben Namen: Liebe
verwirrenden Fülle psychologischer Tetails zu einem be¬
Haß — Eifersucht, aber diese Ordnung ist doch nur
trübenden Resultat gelangen: Exakt, wie die Mathe¬
etwas Künstliches.“
matik ist diese Psychologie, die mit unbekannten Größen
Die Reflexion, mit der Schnitzler seinem Schauspiel
arbeitet; allzu exakt, als daß sie für Leben gelten könnte,
den Namen gibt („Die Seele ist ein weites Land,“ setzt
das immer unlogisch ist. Ersonnen aus Lebensweisheit,
jener Dolmetsch noch hinzu), vergröbert schon den psy¬
nicht erlebt, ist das Schauspiel, ob es auch in ein¬
chischen Naturalismus der Dichtung. Wie es an an¬
zelnen Teilen von Leben strotzt. Schnitzlers grüblerischer
derer Stelie heißt: „Ich sagte es dir offen und deut¬
Hang war stärker als sein Herzschlag, die Eingebung
lich, so deutlich, daß es beinahe schon wieder nicht
schwächer als die kunstvolle Auflösung. Deduktiv ist
wahr geworden ist....“
die Technik dieses Dramas, das die Gesellschaft des
Die deutlichste Nacherzählung der Schnitzlerschen
Wiener Westens in überaus zahlreichen Typen vorführt:
Tragikomödie wäre die unwahrste. Man muß sich an¬
Luxusweibchen, Hahnreie, Halbjungfrauen, Modeschrift¬
zudeuten begnügen, an welchen Exempeln Schnitzler
steller, Sporttrotteln, Lebekünstler und wie die Ba¬
seine Einsicht bewährt, daß der Mensch, sofern er
zillenträger der Dekadenz alle heißen. Sie sind interessant
nicht die glückliche Primitivität einer Kraftnatur besitzt,
nicht sum ihrer selbst willen, doch, dank dem melancholischen
weniger dem Willen seines Herzens als einem Willen
Sarkasmus ihres Dichters. In der Genauigkeit der psy¬
der Triebe unterworsen ist. Volkstümlich gesagt: Die
chologischen Präparate rinnert Schnitzler an Ibsen.
Leichtbeweglichen handeln gegen ihren Willen. Ein
die Menschen Ibsens und ihre Proleme sind
Nur -
Mann, eine Frau. Der Mann liebt nur diese Frau,
von anderer Wichtigkeit....
die Frau nur diesen Mann. Und müssen beide sich be¬
Die Meisterspieler inzeln zu nennen, hieße ihrer
trügen und zugrunde richten. An den Schemen körper¬
Gesamtheit den Ruhm entziehen. Doch gemäß den
licher Tugend glaubt weder er, noch eigentlich sie; doch
höheren Ansprüchen ihner Rollen seien hervorgehoben:
sind sie nicht stark genug, das Gefühl gegen die Tücke
Irene Triesch (Genia), wundervoll in ihren klaren
der Sinne stolz aufrecht zu halten. Sind es wirklich
nur die Sinne? Das Wort fälscht wohl schon wieder. und leisen Distinktionen, Hilde Herterich, als starke