II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 277

angegriffene Frau bemühen, kommen auf geheim¬
nisvolle Weise um. Einer fiel bei einer gemein¬
samen Bergtour von einem Feisen herunter, der
sich mit Ibsenschem Symbolismus über dem Stück
erhebt; ein anderer erschoß sich, nachdem er mit dem
Manne eine bedeutsame Villardpartie gespielt hatte.
Also liebt Hofreiter seine Frau, obgleich ihre Tugend
ihn empört. Sie zwingt ihn, über Leichen zu gehen,
aber da sie den jungen Fähnrich erhört, zieht er
auch keine andere Folgerung. Sie kann es ihm nicht
recht machen in ihrer großen Liebe, die immer ge¬
wartet hat, und so wird er wie sein Freund Aigner
und andere Vorgänger auch den einsamen Weg
gehen müssen. Für die etwas undurchsichtige Frau
Genia, mehr Seele als Charakter, mehr melancho¬
lisches Porträt als aktionsfähige Persönlichkeit, ist
vorläufig gesorgt. Sie wird ihren Buben lieben
und besitzen, bis er ins Kadettenalter kommt. Dann
wird sie ihn an alle die Frauen verlieren, die er
haben will, an dieses Chaos der Schnitzlerschen Welt,
das gewiß vorhanden ist, wenn Eros und Neikos
noch ganz allein regierten. Aber die Griechen hielten
dieses Regiment für einen Urzustand, der dem Kos¬
mos um Jahrtausende voranging.
Das Hauptgespräch, das dem Stücke den Titel
verleiht, findet in der lururiösen Halle eines zu¬
gleich sehr wienerischen und internationalen Hotels
in den Dolomiten statt. Eigentlich liegt es wo
anders, und ich glaube es erkannt zu haben wie
auch einige Modelle aus der Gesellschaft, in der
und von der Schnitzler hauptsächlich lebt. Die beiden
Lebemänner, die da fünf Minuten philosophieren
und sich gegenseitig Lebensmottos wie Zigaretten
anbieten, scheinen ihre Weisheit nicht allzu laut
herausgeben zu wollen. Sie schwimmt auch nur zu
oberst auf einer Fülle von mitsummenden Neben¬
geräuschen. Da geht der Lift geschäftig herauf und
herunter, da läuft der Hotelportier hin und her,
um viele burleske Typen des Reiseverkehrs über¬
legen abzufertigen. Ein Dichter sucht seine Frau,
eine lächerliche Mama ihre Tochter, ein Sportfer
seine Tennispartner, ein Snob Anhänger für
Buddhismus und Dominospiel, und auf einem Klub¬
fessel schnarcht ein Rechtsanwalt aus Halle. Früher
ging es bei Schnitzler ruhiger zu, und soviel Erem¬
plare aus dem zoologischen Garten des Menschlichen
hat er noch nie zum Vergnügen des Publikums zu¬
sammengebracht.
Warum ist der ehedem so schlanke und
erklusive Causeur in diese Breite gegangen, daß
er die eigentliche Tribüne der Hauptverhandlung
mit einer so bunten und etwas possenhaften Staffage
umstellte? Daß der Tisch der Philosophen nur
einer von vielen in dieser eleganten und sehr voll¬
ständig eingerichteten Halle sein durfte? Den Grund
kann ich mir ungefähr denken. Schnitzlers eigene
Erfolge hindern ihn; er fürchtet, sich selbst zu be¬
gegnen. Wenn ihm ein feiner Einfall kommt, so
klingt er wie eine erweiterte Übersetzung aus dem
„Einsamen Weg“ oder aus dem „Zwischenspiel“,
seiner delikatesten und ergiebigsten Komödie, die
unter komplizierten Menschen spielt. Dieselben Pro¬
bleme sind dort alle schon mit der elegantesten und
überzeugendsten Präzision zwischen wenigen Personen
durchgesprochen worden, und wer über das Verhält¬
nis des natürlich erotischen Chaos zu dem künst¬
lichen und zweideutigen Kosmos der Ehe belehrt
sein will, der findet dort den Katechismus. Schnitzler
ging diesmal in die Breite, um sich selbst, wo er
unübertrefflich ist, auszuweichen. Daher die vielen
Nebenhandlungen, die erläuternden Parallelen so
und so gebrochener Ehen um die Hauptsache her¬
um, daher der sehr vollständige Chorus lächerlich
oder ernsthaft einstimmender Figuren. Weil der
Geist allein es nicht mehr ausrichten konnte, mietete
er sich einen weitläufigen szenischen Apparat. Seine
Szene ist viel voller geworden, aber nicht das Stück,
worüber sich auch das Publikum nicht täuschte, vom
Detail amüsiert, von dem Ganzen, das sich nicht
recht greifen läßt, etwas befremdet und erkältet.
Schnitzlers Produktion leidet an der Inzucht, an
der Wiederholung der Motive, die immer dasselbe
Milien der aussichtslosen und bestenfalls melancho¬
lischen Frivolität geliefert hat. Man möchte dieses
etwas schwammige Stück zusammendrücken, damit
der Extrakt herauskommt. Aber es wäre der Wein¬
geist des „Zwischenspiels“ noch einmal verdünnt
und auf eine größere Flasche gezogen. Solche
Wiederholung und Selbstnachahmung braucht noch
lange keine Erschöpfung und Aushöhlung zu be¬
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deuten. Man treibt die Kunst nicht immer wie ein
Liebesabenteuer, durch das man sich selbst neu
hervorbringt. Der Dichter kann auch einmal von
seinen Renten leben, und wir dürfen nicht immer
die Einsetzung seines Kapitals verlangen. Aber
irgendwie muß die Okonomie stimmen. Gibt Schnitz¬
ler weniger von sich, und das ist der Fall, weil er
alles Feine des Stückes schon einmal gesagt und
gekannt hat, so muß er dem eigentlich Dramatischen
entsprechend mehr geben, so müssen diese in sich durch¬
aus bühnenmäßigen Akte mit anderen Klammern
zusammengeschlagen werden, um das Stück zu tragen
und ihm eine Architektur zu geben. Es hilft nicht,
daß sich hinterher ein paar Kenner und Liebhaber
hinsetzen, um aus der psychologischen Logarithmen¬
tafel auszurechnen, daß Frau Genia endlich betrügen,
und daß Herr Friedrich, obgleich er betrogen sein
wollte, endlich schießen mußte. Im Drama gilt
nur, was vorher bestätigt, was erwartet wird.
Und es ist eine alte Weisheit, daß gerade die Über¬
raschung die umsichtigste Vorbereitung erfordert.
Hier kommt alles von ungefähr, und wenn der
Dichter einer von mehreren und zu vielen Hand¬
lungen Konsequenz gibt, so sieht es wie Willkür aus.
Es hätte alles auch anders kommen können.
Es klingt wie ein Märchen aus alten Zeiten,
daß Arno Holz einmal die literarische Revolution
kommandiert hat, daß er Schiller, den Vers, die
Bildsprache zur Bühne hinausführen und die Wirk¬
lichkeit dort einführen wollte. Damals focht er mit
Johannes Schlaf, der an diesem literarischen Radi¬
kalismus das eigentlich Produktive für sich in An¬
spruch nimmt. Wahrscheinlich mit Recht. Für seinen
neuen Opportunismus hat sich Arno Holz mit
diesem Oscar Jerschke versehen, der schon durch seine
Bühnensicherheit geheimnisvoll scheint. Die Schul¬
tragödie „Traumulus“ konnte ich nicht billigen, weil
man die Kindheit in Ruhe lassen soll, die in tragi¬
scher Hinsicht noch nicht satisfaktionsfähig ist. Diese
neue Komödie hat ihre Verdienste. Die letzte Nacht
eines Verurteilten darstellen mit Henkersmahlzeit,
Angstzuständen, letzten erotischen Anwandlungen, und
in diese Galgenstimmung Witze von Staats= und
Rechtsanwalt hineinwerfen, die nicht verletzen: da¬
zu gehört eine kräftige Hand oder eben vier kräftige
Hände. Der erste Akt ist gut, der zweite mindestens
lustig, wenn die Verfasser ihrem entflohenen Bürl
ein Fort Chabrol aufbauen und ihn über die Grenze
retten. Aber alles Ende ist schwer, wenigstens für
deutsche Bühnenschriftsteller. Hat man zwei Akte
mit Unterhaltlichkeit gefüllt, so darf der dritte nur
noch Gelegenheit geben, sich kurz und mit einer an¬
ständigen Verbeugung zu empfehlen. Die großen
Techniker des Lustspiels lassen den Schluß immer*
knapp und ziemlich leer. Dieser temperamentvolle
Bürl war uns lieb, wie er der Justiz zu seiner
Selbsterhaltung ein ungeheures Ding drehte. Wenn
er aber im letzten Akt einen Luruszug mit dem
Präsidenten der französischen Republik gerettet haben
soll, so halten wir ihn für einen Schwindler und
obendrein für einen schlechten Menschen, weil er für
Frankreich optiert. Wie kann man überhaupt einen
Lustspielhelden abtreten und ihm die Marseillaise
vorspielen lassen? Diese Auslieferung ohne Ent¬
schädigung hat verstimmt; das Publikum ist be¬
rechtigt, von seinen Schwankdichtern das Nötigste
an Patriotismus zu verlangen.
Arthur Eloesser