II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 333

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Leid sich, und hörbar wieder rinnt derg nie ver¬
siegende Brunnen der Tränen mit leisem Klingen
durch Garten und Feld ....
Kein Stück ist dies wie eine Kammer voll
Puppen, die springen und laufen und andere Kurz¬
weil vollführen um des Springens und Laufens
und der Kurzweil willen. Nein, es sind Marionet¬
ten von besonderer Art. Das Schwergewicht, das
ihre Gelenke niederzieht und sie beschwingt zugleich,
ist Blei nicht. Ein Metaphysikum macht ihren
Kern aus und eine Sehnsucht ist's, die sie zu han¬
deln zwingt. Verrat, Untreue spinnt hier ihre Fä¬
den, Ehebruch geschieht, Haß quillt auf und Liebe,
Lügen sprießen, Gefühle werden wach und welken.
Aber es ist, als sähe man ein wenig in den Boden
all dieser Dinge hinein, und zuweilen mutet's an,
als höre man die Halme und die Gräser wachsen.
Trotz dieses unterirdischen Getriebes aber stehen
für jedes Auge erreichbar die sichtbaren Vorgänge
dieser Geschehnisse fest und plastisch auf der Erde.
Ort der Handlung: Veranda und Garten der
Hofreiterschen Villa in Baden bei Wien. Haupt¬
personen: Fabrikant Friedrich Hofreiter und Genia,
seine Frau. Der Gatte, ein schlanker, eleganter
Vierziger mit feinem, schmalem Gesicht und eng¬
lisch gestutztem Schnurrbart. Mit Energie in den
Bewegungen, aber grau meliertem Haar. Mit
einem Worte, um seinen Typus anzudeuten: Casa¬
nova, der sich älter werden fühlt. Frau Genia,
einunddreißigjährig, einfach=vornehm gekleidet. Zur
Dulderin begabt, aber mit Temperament gesegnet.
Sie trägt kein Bedenken, der Abenteuer des Ge¬
mahls ein wenig müde, zu Beginn des ersten Aktes
dem ehrlichen Mauer gegenüber zu bekennen: „Es
gab eine Zeit, in der ich das Rücksichtsloseste vor¬
hatte, was eine Frau einem Mann, besonders einem
eitlen, antun kann. Mich zu rächen.“
Im vierten Akie ist es dennoch Tat geworden!
Der Weg aber, den Genia an der Hand des Dich¬
ters bis zu diesem Punkt zurücklegt, muß wohl mit
als das Tiefste an diesem Drama angesprochen
werden. Man braucht nur irgend ein Stück fran¬
zösischer Herkunft zum Vergleich heranzuziehen, um
deutlicher zu sehen, worin hier der Finger eines
Dichters zu spüren ist. Dort allenthalben ein Auf¬
wand an seifenglatter Dialektik, an Pseudo=Lei¬
denschaft und Pfeudo=Angst, und als Ergebnis end¬
lich eine zwar gerettete, aber in ihrem wirklichen
Gehalt nicht übertrieben zu bewertende Tugend.
Bei Schnitzler im Weiten Land ist alles furcht¬
loses Geschehen bis in die letzte Konsequenz. Selbst¬
verständlich, notwendig, ohne große Worte und an¬
dere Beschwichtigungsgeräusche. Er greift auch
nicht zur erprobten Laterna magica und wirft
das Bildnis der Märtyrerin an die Wand oder
ein Spruckband mit frommer Devise. Er läßt es
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sich ereignen, wie ein Gewittersturm niedergeht,
und etwas von jener stillen Traurigkeit breitet sich
hin, die er in den Zeilen hat Form werden lassen,
wo die Rede ist von dem unendlich Vielen und
Widerspruchbewegten, das leider Raum hat in dem
weiten Land der Seele ...
Die äußere Handlung eilt dem Ende zu, d. h.
über eine Skala von Steigerungen und spannungs¬
vollen Hemmungen, welche die Schnitzlersche Tech¬
nik in höchster Vollendung zeigt. Hofreiter, der
*
von einer erotischen Exkursion vorzeitig zurüa¬
kehrt, erschießt den Fähnrich, mit dem Genia die
Ehe gebrochen, im Duell und stellt sich, im Inner¬
sten gleich weit entfernt von Genia wie der jüng¬
sten Geliebten, dem Gericht.
Wenn die Darstellung einen Fehler hatte, s
waren es nur die Tempiverschleppungen, die sich
fast durch alle fünf Akte hinzogen, und woraus
Längen entstanden. Der zwar sehr hübsch aus¬
gestattete dritte Akt im Alpenhotel, der aber kaum
Wesentliches zur Charakterisierung der Hauptper¬
sonen beibringt, könnte wohl wegbleiben. Die üb¬
rigen Konversationsszenen dürften eine Beschleu¬
nigung erfahren. An diesen Szenen hatten Anteil
die Herren von Jacobi (Fähnrich), Schwan¬
neke (Greindl), Graumann (Hoteldirektor),
König (Serknitz), Stettner (Portier), Nad¬
ler (Oberleutnant), Gura (Natter) und Basil
(Rhon), die Damen Höfer (Frau Natter), Frl.
Kolbe (Frau Rhon), Frl. Rohde (Frau Wahl).
Erna Wahl, die jüngste Geliebte Hofreiters, kam
in Fräulein Michaleks Darstellung nicht völlig
zur Geltung, und man sah wieder, daß dieses Fach
noch durchaus nicht wieder vollwertig besetzt ist.
Die von Ibsenschen Lichtern umspielte Frau Mein¬
hold wurde von Fräulein Dandler gedämpft
und fein gesprochen, während Herrn Ulmers
männlicher ehrlicher Ton dem Mauer etwas sehr
Sympathisches gab. Frau Genia fand in Frau v.
Hagens Darstellung eine fast erschöpfende gute
Lösung. In dem Schlußakt wäre die mimische
Rhythmisierung der Empfindungen noch etwas
zurückzudämmen. Das stille Ausschreiten Genias
in Haus und Garten und der zurückhaltende
Sprechton machte vieles von dem inneren Leiden
dieser Frau erkennbar. Steinrück aber hat
mit dem Hofreiter eine Figur geschaffen, die neben
seinem ehernen Doktor Schön im Erdgeist zu be¬
stehen vermag. Lebenskraft und männlicher Wille,
gebändigt durch eine ungewöhnliche Selbstbeherr¬
schung, formten hier einen Menschen, der dauernd
etwas zu sagen hat und dessen Sein und Abschied
wie Variationen jenes Buddha=Wortes waren,
das da lautet: Wer Lust begehrt, begehrt Leid.
Richarb Elchinger
Ueber die Aufnahme des neuen Schnitzlerschen
Stückes an anderen Bühnen liegen noch folgende
Meldungen vor:
Aus Hamburg: Schnitzlers „Weites Land“
errang im Schauspielhaus unter Hagemanns Re¬
gie einen freundlichen Erfolg.
Aus Mainz: Im Stadttheater konnte sich
trotz trefflicher Darstellung und guter Einstudie¬
rung das Publikum nicht für die Novität er¬
wärmen. Die Vorzüge des Stückes vermochten
nicht die laue Aufnahme, die einer Ablehnung sehr
nahe war, abzuwenden.
S.
Aus Prag: Das „Weite Land“ Schnitzlers er¬
zielte hier nur einen Achtungserfolg trotz des
guten Spiels und der vorzüglichen Spielleitung.
B.
Buntes Feuilleton
-a- Unbekannte Marterln. Obschon zahlreiche
der sogenannten „Marterl=Sammlungen“ sich einer
gewissen Vollständigkeit rühmen, tauchen im süd¬
lichen Bayern und in den österreichischen Alpen¬
ländern doch von Zeit zu Zeit wieder volkstümliche
Grabschriften auf, die auf einsamem Waldsteig
oder auf ganz vergessenem Kirchhof aufgefunden
werden. Drei derartige Marterln, die in einem
kleinen Gehölz der Festung Oberhaus bei Passau
auf einfachen Holztafeln zu lesen sind, gibt der
Grazer „Heimgarten“ wieder: Das „Denkmall
der ehrengeachteten Anna Mar. Pirkinger, Aus¬
nahmshäuslerin von Bloßersberg, gestorben am
26. XII. 1887 in eim Alter v. 98 Jahren“, trägt
folgende Inschrift:
Soll ich zittern vor dem Grabe
Ich ein abgelebtes Weib
Die mit seinem Knollenstabe
Kaum noch stützen kann den Leib
Haare wie der Schnee so weiß
In den Adern kalt wie Eis.
An „Michl Wurmter Loambauersohn von Zen¬
ting geb. d. 5. Juni 1833“ sollen die Verse er¬
Der Schlag hat ihn gerührt
Als er eine Kuh zum Markt hat geführt
den 3. Mai 1864
Vor ihm starb sein Vater
Er war Loambauer und Bader
Er hat vielen Adern aufgelassen
Gott wird ihn nicht verlassen.
Zur Erinnerung „an das traurige Sikfall durch
dessen Schullt ist, daß die Anna Maria Heigl
Wirtstochter v. Stötzering, welche den 10. Oktober
1789 der hölzerne Thürstock erschlagen bat in