II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 341

Allgemeine
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24. —1te Land
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21. Oktovel 1911.
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im Besitze der Macht. Und sollte Dr. Jäckh, der auch jetzt wieder vor
stentum nicht mehr bloß ein Kampf um die Zahl der Missionsstatio¬
wenigen Monaten die türkische Studienkommission durch unser deut¬
nen, wie in Afrika. Dann würde auch die äthiopische Bewegung uns
sches Vaterland geführt hat, auf der ihm einer der angesehensten
nicht mehr in der Weise auf die Schanze rufen, wie es bisher noch
türkischen Fahrtgenossen vor lauter Dankbarkeit das brüderliche Du
nötig ist, dann würde bei der noch bestehenden unüberbrückbaren
anbot, nun auch seinerseits vielleicht in leichtbegreiflichem Optimis¬
Verschiedenheit des Islams vom Christentum mehr und mehr der
mus das neue Türkentum zu günstig beurteilen, darin hat Dr. Jäckh
Zustand angebahnt, mit dem das Buch von Dr. Diercks schließt, ein
doch wohl recht, daß wir in unserer Politik die Türken als den wich¬
Zustand, der einen Ausblick auf einen friedlichen Wettbewerb mit
tigsten Faktor unserer auswärtigen Freundschaften benötigen, als
den christlichen Kulturmächten erwarten läßt. Für das Christen¬
Versorger unseres Korn= und Getreidemarkts, als Abnehmer unserer
tum liegen hier keine besonderen Probleme vor. Es geht jetzt schon
Industrieerzeugnisse. Bekannt ist die Bedeutung, die in diesem Zu¬
auf diesen Wegen diesen Zielen entgegen, indem es mit aller Kreuz¬
sammenhang die Bagdadbahn hat. Jäckhs Materialien zu dieser
zugsromantik endgültig gebrochen hat. Inwieweit der Islam ihm da
Frage schließen selbst dem die Augen auf, der etwa noch nicht ander¬
entgegenkommt, entgegenkommen kann und entgegenkommen mag,
weitig davon wußte.
das ist schließlich das letzte, ja das einzige „Problem des Islams“.
Freilich können einige Anmerkungen nicht unterlassen werden.

Da doch die gesamte Volksgesundheit bloß auf sittlicher Grundlage
Aussicht auf Bestand hat, so sei gefragt, ob der ethische Stand des
Theater und Mulik
Türkentums gerade auf sexuellem Gebiet so hoch gewertet werden

darf, wie er Dr. Jäckh erscheint. Dankbar verzeichnen wir seine Mit¬
teilungen über die Seltenheit eines eigentlichen Harems und über die
Häufigkeit der Monogamie. Aber der mir selber wohlbekannte Ver¬
Münchener Theater.
fasser wird mir zugeben müssen: jenes Erlebnis der Studienkom¬
ssarts Schauspieler=Jubiläum.
Ein neuer Schnitzler.
Karlchen auf dem Theater. — Der Almanach der Vereinigten The¬
mission in seinem Heilbronner Heim spricht doch nicht so ganz für
ater. — Don Quijote Redivivus.
seine Auffassung. Bei der angeführten Studienreise hat Dr. Jäckh
Das Schauspielerjubiläum, das Ernst v. Possart
den prachtvollen Gedanken gehabt, seinen Gästen auch ein deutsches
gegenwärtig an unserer Hofbühne feiert, fand seine Fort¬
Heim und eine deutsche Hausfrau vorzuführen. Das war ein gar
setzung in einer Aufführung des Kaufmanns von Venedig.
nicht zu unterschätzender Versuch, den Türken zu zeigen, wo die
Possart spielte den Shylock, dieselbe Rolle, in der er sich einst
wahren Wurzeln unserer Kraft liegen. Nicht die industriellen Unter¬
von der Bühne verabschiedet hatte. Und er spielte sie fast ge¬
nehmen, nicht militärischer Glanz und Schneid sind die Grundlagen
nau mit derselben körperlichen Kraft und Beweglichkeit und mit
unserer sittlichen und damit auch wirtschaftlichen Gesundheit, sondern
dem ungebrochenen Organ, das ihn heute noch vor allen leben¬
das deutsche Heim und die deutsche Hausfrau! Nun rühmt zwar ge¬
den Schauspielern auszeichnet. Es ist überflüssig zu sagen, daß
rade Jäckh den häuslichen und familiären Sinn der Türken, aber
das Publikum ihn auch an diesem zweiten Abend mit allen
seine Gäste in Heilbronn standen damals trotzdem unter dem Zau¬
zu Gebote stehenden Mitteln feierte. Erst nachdem diese
berbann von etwas nie Erlebten, noch Geschauten. Es muß somit
öffentliche Feier im Hause verklungen war, konnte sich — wie
doch wohl ein Unterschied bestehen zwischen dem törkischen und dem
wir hören — eine private hinter dem Vorhang auf der Bühne
deutschen Familienleben. Vergessen wir nicht in diesem Zusammen¬
abspielen, die dem Gefeierten weitere Ehrungen brachte.
hang unserer Kinder. Sie sind eines rechten deutschen Heimes Stolz
Gegen den Schluß der Sommersaison hatte es einmal
und Freude! Und unser Volk wächst dabei von Jahr zu Jahr. Das
den Anschein, als ob unsere Theaterleitungen sich bezüglich
türkische Volk wächst nicht, und in den Deutsch=Armenischen Blättern
der Premierentage kollegial verständigt hätten. Man erlebte
konnte man in diesen Tagen wieder lesen, daß schon die Armenier
das erfreuliche Novum, daß insbesondere unsere Hofbühne
hier „gesündere“ Verhältnisse haben. Den preußischen Leutnant, von
und das Schauspielhaus ihre Neuheiten an verschiedenen
dem es einst hieß, ihn mache uns kein ander Volk nach, den haben
Tagen der Woche ansetzten. Wodurch dieses ebenso vernünf¬
die Türken sich auf dem direkten Weg kommen lassen. Die Türken
tige wie kollegiale Verhältnis gestört wurde, ist uns natürlich
sind ihrer militärischen Schulmeister würdige Schüler. Man lese bei
unbekannt geblieben, wohl aber sehen wir nun bei Beginn
Jäckh seine Aufzeichnungen über den von ihm mitgemachten albani¬
der Wintersaison, daß sich alle Theater wieder auf den Sams¬
schen Kriegszug! Unsere Technik, auf die wir heute so stolz sind, wird
tag als den einzigen Tag stürzen, an dem, wie es scheint,
nicht minder ihren Siegeszug in der Türkei veranstalten. Das Pro¬
neue Stücke aufgeführt werden können. Am letzten Sams¬
blem des Islams wird in seinem. Nerv berührt durch die Frage: kann
tag gab es nun gar zwei Uraufführungen im Schauspiel
sich das Türkenvolk, als der Hauptträger des Mohammedanismus,
allein, während drüben in der Oper, „weil's gleich ist“ gleich¬
mittels des gesunden deutschen Familiengeistes derart verjüngen,
zeitig auch Beer=Walbrunns „Don Quijote“ neu einstudiert
daß es selber wieder ein jugendfrisches Volk abgibt? Das muß die
vorgeführt wurde. Das hat für den Menschen aus dem
Zukunft lehren. Und von seiner Jugendfrische wird es auch abhän¬
Publikum, der den gar nicht so seltenen, aber uns allerdings
gen, was aus den vielen schönen Hoffnungen dereinst werden wird
unbegreiflichen Ehrgeiz besitzt, überall wo etwas Neues los
und kann, die mit unserer deutsch=türkischen Freundschaft ausgesät
ist dabei sein zu müssen, sehr viel Unbequemes, ja es ist ihm
worden sind. Die Anlagen des Türkenvolkes sind zweifellos gute.
sogar unmöglich gemacht, diesem seinen für Theaterkassen
Seine stramme Enthaltsamkeit von allen geistigen Getränken hat es
so willkommenen Ehrgeiz frönen zu können. Die Kritik aber,
bewahrt von dem Schlamme der Folgen, unter denen unser deutsches
die nun wirklich und leider überall dabei sein soll, muß wohl
Vaterland leidet und so lange leiden wird, bis es sich nicht selber vom
oder übel ein Nacheinander eintreten lassen und sich selbst
Joche des Alkoholismus befreit — und zwar radikal! So ist denn
Uraufführungen hübsch nach der Reihe ansehen.
anzunehmen, daß gerade diese unsern Neid erweckende mohammeda¬
Wie auf Verabredung — und es gab sicher keine“
nische Volkstugend dem Türkenvolk und damit dem gesamten Islam
ließ der gesamte kritische Areopag die literarische Urauffüh¬
in einem dauernden Verjüngungsprozeß zugute kommen werde.
rung eines neuen Schnitzlerschen Dramas im Kgl. Residenz¬
Das aber ist das Problem des Islams schlechthin, ob er in sich
theater links liegen und begad sichehinüber an die andere
die Keime einer nach Verjüngung und Ethisierung in sich trägt oder
Seite der Maximilianstraße, um dabei zu sein als das aus
entwickeln kann. Noch ist er viel zu sehr von der Macht der Geist¬
der „Jugend“ sattsam bekannte Karlchen mit einem Erst¬
lichkeit abhängig, selbst unter den Jungtürken hat die konservative
lingsstücke die weltbedeutenden Bretter betrat. Wir wissen
Richtung gesiegt, über welchen Sieg der von Dr. Jäckh noch so sehr
natürlich die Gründe einer so seltenen Einmütigkeit nicht, ver¬
gerühmte jugendliche Finanzminister Dschawid Bey zu Fall kam.
muten aber, daß die Herren an jenem Abend im Schauspiel¬
Aus dem noch das Wesen des Islams ausmachenden kultischen Ele¬
hause etwas Amüsanteres erwartet haben, als ihnen drüben
ment muß sich der Islam noch weit mehr, als bereits der Fall, hin¬
im Residenztheater geblüht hätte. Mit dieser feinen Witterung
durchringen zu einer Ethisierung, Laisierung und Liberalisierung.
haben sie auch recht behalten. Schnitzlers fünfaktige Tragi¬
Ob er das kann, wird sich zeigen. Im Schoße der Familie nüßte der
komödie „Das weite Land“ ist nicht nur ein fürchterlich
Anfang gemacht werden.
langes, sondern leider auch ein ziemlich langweiliges Stück.
Und dann bekommt das Problem „Kreuz und Halbmond“ csse¬
Warum soll man sich scheuen, dies ehrlich auszusprechen? Da
der einen neuen Sinn, den es bisher in der Geschichte noch niemals
Schnitzler sich doch nicht scheut, von den gerade nicht sehr
gehabt hatte. Dann wäre ein Wettkampf zwischen Islam und Chri¬
steilen, aber angenehmen Höhen seiner „Liebelei“ in dieses
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