WE
Da
d
24 an box 29/1
Prager Tagklat, Praz
a5 10. 1911
R. 1O.
Theater.
„Das weite Land.“
Tragikomödie in fünf Akten von Arthur Schnitz¬
ler; gestern zum erstenmal im Neuen Theater.
Das „weite Land“ birgt eine kleine Wiener
Gesellschaft, die untereinander durch mancherlei Be¬
ziehungen fester und lockerer Art verknüpft ist: durch
Liebe und Haß, Freundschaft und Bekanntschaft,
durch Beziehungen des Bluts und des Intellekts,
der Geburt und des Zufalls; eine kleine Gesellschaft
scheinbar alltäglicher Menschen, unter der ein Fabri¬
kant, ein Arzt, ein Fähnrich der Marine, ein Ban¬
kier, ein Hoteldirekter und ein Offizier sich findet,
lauter Leute, die zum Unterschied von frühern
Schnitzlerschen Helden, brave bürgerliche Berufe,
wahrscheinlich alle Papiere in Ordnung und zur
Kunst keinerlei verdächtige Beziehung haben. Den¬
noch sind alle diese Menschen mehr oder weniger mit
dem besondern Oel des Dichters gesalbt, alle ein
wenig Erkenntnis=Theoretiker, Schicksals=Deuter,
Selbst=Analytiker und Ich=Psychologen; fast jeder
von ihnen ist beschwert mit den Zweifeln des Da¬
seins, weiß Bescheid über die Rätsel der Dinge, und
die Ahnungslosen, die an den Abgründen, Klüften
und Fährlichkeiten des Lebens vorbeitanzen, wie
diese geschwätzige Frau Wahl oder der junge Paul
Kreindl, scheinen nur da zu sein, um das Ahnungs¬
voll=Bewußte der Andern zu unterstreichen. So
vollzieht sich denn alles Geschehen innerhalb dieser
kleinen Gemeinde höchst beziehungsreich zum Schick¬
sal, jeder Schritt führt ins Dunkel unlösbarer Frä¬
gen, scheucht ein ganzes Rudel von Zweifeln auf
und tappt an unzähligen Irrlichtern vorüber. Wie
der Nachthimmel über einer kleinen Landschaft, wölbt
sich das kunstvolle Netz des Schicksals über den
Menschen dieser Schnitzlerschen Tragikomödie, ja
manchmal scheints, als ob die abstrakte Dekoration
des weiten Lands wirklich zu weit wäre für dessen
kleine Figuren. Sie breitet das ganze Arsenal der
Schnitzlerschen Fragen aus: alle wichtigen Ange¬
legenheiten des Lebens ethische und phosiologische
Zweifel, die Affären des Leibes und der Seele, Fra¬
gen der reinen und der praktischen Vernunft, dialek¬
tisch bewegt und von vielerlei Seiten beleuchtet.
Da ein Akt unten in Südtirol, in den Dolomiten
spielt, kriegen selbst die Schlernwände, die sonst mit
der simplen Sonne vorlieb nehmen, eine Art meta¬
phischen Alpenglühns, und der „Purtscheller“ wird
ergänzt durch viele geistvolle Kommentare. Uebri¬
gens sind gerade diese touristisch=philosophischen
Bemerkungen nicht die übelsten des Buches, weil sie
eines der lockendsten Themen, das Thema der reiz¬
vollen Gefahr, sehr hübsch vertiefen. Was es aber
mit uns und mit dem Titel des Stückes auf sich hat,
sagt der Hoteldirektor des Dolomitenhofs, ein
Ma der beinabe wirklich iruden in Oessagreich
Raum in uns! Liebe und Trug, Treue und Treu¬
losigkeit, Anbetung für die eine und Verlangen nach
einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen
wohl Ordnung in uns zu schaffen so gut es geht,
aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches.
Das Natürliche ist das — Chaos!..
Es ist die
alte Schnitzlersche Erkenntnis aus dem „Einsamen
Weg:“ Alles ist immer anders. Dem Schicksal be¬
liebt es, die sonderbarsten Touren zu machen. Be¬
ziehungen verschwinden spurlos, gehen unterirdisch
weiter und tauchen höchst überraschend ans Tages¬
licht. Parallelen gehen nebeneinander und müssen,
schmerzlich erkennen, daß sie sich erst in der Un¬
endlichkeit schneiden. Ordnungmachen hilft nicht;
das Chaos ist das Natürliche.
Diese faszinierende bengalische Beleuchtung des
weiten Landes gäbe freilich noch keine Bewegung,
keine Handlung, kein Drama; um dies zu ermögli¬
chen, tritt auch diesmal Schnitzlers dunkler Held,
Freund und Helfer auf: der Tod. Er spielt den
Auftakt, gibt den ersten Stoß. Wenn der Vorhang
aufgeht, ist der Tod schon dagewesen und hat seine
Vorarbeit bereits verrichtet. Nun haben nicht nur
Da
d
24 an box 29/1
Prager Tagklat, Praz
a5 10. 1911
R. 1O.
Theater.
„Das weite Land.“
Tragikomödie in fünf Akten von Arthur Schnitz¬
ler; gestern zum erstenmal im Neuen Theater.
Das „weite Land“ birgt eine kleine Wiener
Gesellschaft, die untereinander durch mancherlei Be¬
ziehungen fester und lockerer Art verknüpft ist: durch
Liebe und Haß, Freundschaft und Bekanntschaft,
durch Beziehungen des Bluts und des Intellekts,
der Geburt und des Zufalls; eine kleine Gesellschaft
scheinbar alltäglicher Menschen, unter der ein Fabri¬
kant, ein Arzt, ein Fähnrich der Marine, ein Ban¬
kier, ein Hoteldirekter und ein Offizier sich findet,
lauter Leute, die zum Unterschied von frühern
Schnitzlerschen Helden, brave bürgerliche Berufe,
wahrscheinlich alle Papiere in Ordnung und zur
Kunst keinerlei verdächtige Beziehung haben. Den¬
noch sind alle diese Menschen mehr oder weniger mit
dem besondern Oel des Dichters gesalbt, alle ein
wenig Erkenntnis=Theoretiker, Schicksals=Deuter,
Selbst=Analytiker und Ich=Psychologen; fast jeder
von ihnen ist beschwert mit den Zweifeln des Da¬
seins, weiß Bescheid über die Rätsel der Dinge, und
die Ahnungslosen, die an den Abgründen, Klüften
und Fährlichkeiten des Lebens vorbeitanzen, wie
diese geschwätzige Frau Wahl oder der junge Paul
Kreindl, scheinen nur da zu sein, um das Ahnungs¬
voll=Bewußte der Andern zu unterstreichen. So
vollzieht sich denn alles Geschehen innerhalb dieser
kleinen Gemeinde höchst beziehungsreich zum Schick¬
sal, jeder Schritt führt ins Dunkel unlösbarer Frä¬
gen, scheucht ein ganzes Rudel von Zweifeln auf
und tappt an unzähligen Irrlichtern vorüber. Wie
der Nachthimmel über einer kleinen Landschaft, wölbt
sich das kunstvolle Netz des Schicksals über den
Menschen dieser Schnitzlerschen Tragikomödie, ja
manchmal scheints, als ob die abstrakte Dekoration
des weiten Lands wirklich zu weit wäre für dessen
kleine Figuren. Sie breitet das ganze Arsenal der
Schnitzlerschen Fragen aus: alle wichtigen Ange¬
legenheiten des Lebens ethische und phosiologische
Zweifel, die Affären des Leibes und der Seele, Fra¬
gen der reinen und der praktischen Vernunft, dialek¬
tisch bewegt und von vielerlei Seiten beleuchtet.
Da ein Akt unten in Südtirol, in den Dolomiten
spielt, kriegen selbst die Schlernwände, die sonst mit
der simplen Sonne vorlieb nehmen, eine Art meta¬
phischen Alpenglühns, und der „Purtscheller“ wird
ergänzt durch viele geistvolle Kommentare. Uebri¬
gens sind gerade diese touristisch=philosophischen
Bemerkungen nicht die übelsten des Buches, weil sie
eines der lockendsten Themen, das Thema der reiz¬
vollen Gefahr, sehr hübsch vertiefen. Was es aber
mit uns und mit dem Titel des Stückes auf sich hat,
sagt der Hoteldirektor des Dolomitenhofs, ein
Ma der beinabe wirklich iruden in Oessagreich
Raum in uns! Liebe und Trug, Treue und Treu¬
losigkeit, Anbetung für die eine und Verlangen nach
einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen
wohl Ordnung in uns zu schaffen so gut es geht,
aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches.
Das Natürliche ist das — Chaos!..
Es ist die
alte Schnitzlersche Erkenntnis aus dem „Einsamen
Weg:“ Alles ist immer anders. Dem Schicksal be¬
liebt es, die sonderbarsten Touren zu machen. Be¬
ziehungen verschwinden spurlos, gehen unterirdisch
weiter und tauchen höchst überraschend ans Tages¬
licht. Parallelen gehen nebeneinander und müssen,
schmerzlich erkennen, daß sie sich erst in der Un¬
endlichkeit schneiden. Ordnungmachen hilft nicht;
das Chaos ist das Natürliche.
Diese faszinierende bengalische Beleuchtung des
weiten Landes gäbe freilich noch keine Bewegung,
keine Handlung, kein Drama; um dies zu ermögli¬
chen, tritt auch diesmal Schnitzlers dunkler Held,
Freund und Helfer auf: der Tod. Er spielt den
Auftakt, gibt den ersten Stoß. Wenn der Vorhang
aufgeht, ist der Tod schon dagewesen und hat seine
Vorarbeit bereits verrichtet. Nun haben nicht nur