II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 477

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24. Das weite Land
Aeschun Muß Follstreunc, Prünn, Ulln.
17 1)
vom:
Theater und Kunst.
„Das weile Land.“ Tragikomödie von Arlhur
Schuhe Ein Roman im Gewande des
Dramasz das in fünf Aklen bedeutende Probleme der
menschliche Psyche an unbedeutenden Menschen zu lösen
hat. Eine schwierige Arbeit, bei der auch die trefflich ge¬
staltenden Hände eines Schnitzler Teilfehlern unterworfen
sind. Die vielfach angefeindete Handlung des Stückes sei
hiebei am allerwenigsten in Betracht gezogen. Auf die
Zahl der Ehebrüche kommt es nicht an und gleichgüllig
ist, ob Herr Friedrich Hofreiter mit Fräulein Erna Wahl
hoch oben im Gebirge Küsse tauscht oder Herr Marine¬
leutnant Aigner im Tal des Nachts aus dem Fenster der
Frau Genia steigt. Friedrich Hofreiler, der tatkräftige
Fabrikank, hat das erste Problem zu lösen, das in ihm
ein nicht erkennendes Unbehagen über den Nichtehebruch
seiner Frau mit dem lolen Klavierspieler zur Unheimlich¬
keit steigert: Wie, in diesem Milieu des leichtfertigen
Lebens voller Außerlichkeiten, wo Ehebruch und Tennis¬
partien beinahe im gleichen Range angesetzt werden,
läßt man aus Galtentreue einen Menschen sierben? Wie
ist diese Genia eigenllich? Die prächtigen Rosen ihres
Villengartens strömen ihren naturwahren Duft in den
Bereich einer lügenreichen Alltagsehe, die im Festgewande
des Reichtums prangt und nur den armseligsten Inhalt
birgl! Bis zum Tode eines Mannes steigert sie trot
allem ihre eheliche Treue — und zwei Wochen später
der obligate Leutnant in ihrem Zimmer? Und Hof¬
reiter? Stark und rücksichtslos, lebenssicher, mit vielen
Möglichkeiten und Fähigkeiten für ein kräftiges Aus¬
nützen des Daseins — und füllt das weile Land seiner
Seele mit nichts als Liebeskändeleien in allen Varianken?
Einen Moment der Größe hat er allerdings, dieser
Hofreiter: da er als Sieger im Duell erkennt, daß er
im Leben der Besiegte sei, nach Einsamkeit schreit, weil
er die Jugend nicht mehr hat, die ihm aus frechem Auge
entgegenblitzte. Den einsamen Weg wandelt Dr. Mauer,
der restlos ehrenvolle, überanständige Mann, der in

dieser Welt des innerlich hohlen Spießerlums keine An¬
satzflächen findet und diese Erkenntnis mil Seelenopfern!
bezahlt und Freundesgefühlen umkleidel. Die von ihm
geliebte Erna Wahl hätte die stärkste Figur des Stückes
werden können. Sucht ihre Liebe in Selbständigkeil an
eine Persönlichkeit zu schenken und glaubt in Hofreiter!
viesen Mann gefunden zu haben. Die Reslexe einer krank¬
haften Lebensauffassung ihrer Umwelt sind in ihr zur
verhängnisvollen Leidenschaft ausgereift, die im Liebes¬
lande Schön und Häßlich nicht unterscheiden und ihre
junge Seele ersterben läßt an der Seelenöde des von ihr!
geliebten, im eigenen Seelenchaos altgewordenen Hof¬
reiker. Daß die beiden jungen Seelenmenschen Erna
Wahl und Olto Aigner an der Seelenleere des allernden
Hofreiter scheilern mußten, daß aber das weite Land
dieser beiden Seelen vor der Zeit verödet liegt, das ist
die Tragik in dieser Komödie des Wien=Badener
Spießerlums. Herr Mamelok war seiner Rolle ge¬
wachsen: sein Hofreiter ist einwandfrei. Frl. Dürr]
(Genia) ist durch und durch Künstlerin, die versleht, was
der Dichter sagt und ihn selbständig zu interpretieren
weiß, Hervorzuheben sind noch noch Frl. Rieß (Erna),
die eine schwierige Aufgabe zu lösen hatte und Herr
Strauß, dessen Bankier Nalier den Anforderungen
entsprach.
Dr. J. St.
(Quellenangabe ohne Gewähr)
Ausschnitt aus:
0 1
200KF1911
vom:
S#
Der Humoriet, Wien
Die Novität der Dekade war Artur Schnitzlers Tragikomödie
„Das weite Land“¬
sie ging am Abende vorher an 13 Bühnen
darunter auch am wiener Burgtheater — erstmalig in Szene Vorderhand#
gibt es sicherlich 14 verschiedene Besprechungen dieser Premiere; denn ich
kann mir kaum denken, daß zwei Berichterstatter auch nur annähernd
das Gleiche oder ähnliches darüber geschrieben haben, so eigenartia ist
dieses Werk Schnitzlers. Bei dem Namen Schnitzler selbst fängt schon das
Geheimnisvolle, das Rätselhafte an. Es zweifelt niemand an der dich¬
terischen Begabung Schnitzlers, niemand hat den Mut, leise Bedenken
auszusprechen, ein schärferes oder gar ein ablehnendes Urteil zu fällen.
Schnitzler kann nichts Schlechtes schreiben, und wenn wir, wie im vor¬
liegenden Falle, der Novität nichts Besonderes abgewinnen können, dann
sind wir eher entschlossen, einzugestehen, daß wir ihn diesmal vielleicht
nicht ganz verstanden, nicht völlig erfaßt haben,
aber daran sind eben
wir schuld und Schnitzler bleibt nach wie vor der Unnahbare, der Dichter
von Gottes Gnaden ..... Was uns in den fünf Akten der Tragikomödie
vorgespielt wird, ist gewiß sehr interessant und zum Teile sogar fesselnd,
es ist aber gar so absonderlich, so ungewohnt, so unnatürlich und seltsam;
wir haben das Empfinden, solchen Menschen im Leben nie begegnen, ihr
Handeln nie rechtfertigen und entschuldigen zu können. Und wenn uns
Schnitzler sagt: „Es gibt solche Menschen!“ dann schütteln wir eben die
Köpfe, denken nach und grübeln; wir suchen mit unserem bescheidenen
Menschenverstande nach einer uns naheliegenden Erklärung für ihr Han¬
deln, und wenn wir sie nicht finden, dann kehren wir aus dem weiten
Lande nachdenklich zu Schnitzler zurück und versuchen es, ihm zu glauben,“
wie wir es ja schon oft früher getan haben; denn offen und ehrlich hat
Schnitzler nie zu uns gesprochen, immer gab es Geschehnisse, die eines
Kommentars bedurften. Diesmal aber sind die Personen zu kompliziert und
mit sich selbst vollends im Unklaren (für den Zuhörer wenigstens). Fabri¬
kant Hofreiter liebt seine Frau und liebt sie nicht, liebt aber auch mehrere
andere und stößt sie alle wieder von sich. Betrügt ihn seine Frau nicht, so
ist ihm dies unheimlich, betrügt sie ihn, so rächt er seine Ehre mit der
Waffe. Und diese Frau selbst! Sie will betrügen und betrügt nicht, sie
will nicht betrügen, betrügt aber dennoch — kurz, so geht es im bunten
Wirrwar und man hat seine liebe Not, mit diesen merkwürdigen Leuten
halbwegs ins Reine zu kommen. — So ging denn das Publikum mit sehr
gemischten Gefühlen aus dem Hause; es lag so etwas wie Verdrossenheit
über dem Zuschauerraum, als ob da und dort einer hätte aufstehen
und schreien wollen: „Nein! Das ist falsch, so darf es nicht weiter¬
gehen!“ — Und unter dem Zwange, auf falsche Fährten gelockt zu sein,
entwickelte sich allmählich — Langeweile, Widerwilken und Unlust am
Ganzen. Man ging nicht mit dem Dichter, sondern fühlte sich entfremdet,
abgestoßen.
Die Darstellung bot in den Hauptrollen vorzügliche Leistungen.
Frl. Dürr (Genia) und Herr Mamelok (Hofreiter) waren wieder?
einmal brillant; sie schufen zwei echte Schnitzler=Figuren, wie sie besser
kaum gebraucht werden können. Frl. Dürr fand jenen weichen, schwer¬
mütigen Ton der Duldsamkeit und Entsagung, Herr Mamelok zeichnete
den Gatten in eleganter, vornehmer Manier, selbst im Affekt mit wohl¬
tuender Zurückhaltung. Den übrigen Darstellern — die Damen Rogall
(Frau Wahl), Wiesner (Aigner), Ries (Erna) und die Herren
Rehberger (Otto), Lenhart (Dr. Aigner), Neufeld (Gustav),
Recke (Dr. Mauer), Warbeck (Kreind!) und Strauß (Natter)
sei für ihre künstlerisch gediegenen Darbietungen die vollste Anerkennung
ausgesprochen. Herrn Tellers Regie gelangen stimmungsvolle Szenen¬
bilder und ein glücklich abgetöntes Zusammenspiel.
M. V.
h.