24. Das weite Land
box 29/2
Karlsruher Zeitung, Karlsruhe i. B.
.9. 3. 1912
Großherzogliches Hoftheater. (A. Schnitzler, D6
weite Land.) Ein Kenner von Schnitzlers Eigen¬
art sagt, er sei unfähig zu jedem starken Lebensgenuß,
da ihm alles naive Empfinden, alle Einheitlichkeit im
Lieben und Hassen versagt sei; es fehle deshalb dem
Dramatiker das kraftvolle Zugreifen, dieser Mangel
verweise ihn immer wieder auf die bohrende Betrach¬
tung seelischer Zustände, seine eigene seelische Zerrissen
heit zwinge ihn zum Ergründen des Psychischen.-
Was ist das weite Land?, Schnitzler sagt es uns durch
den Hoteldirektor von Aigner: .. „Sollt es Ihnen
(er unterredet sich gerade mit Hofreiter über seine Ehe¬
scheidung) noch nicht aufgefallen sein; was für kompli¬
zierte Subjekte wir Menschen im Grunde sind? So
vieles hat zugleich Raum in uns —! Liebe und Trug,
Treue und Treulosigkeit. Anbetung für die eine und
Verlangen nach einer andern, oder nach mehreren. Wir
versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es
geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas künstliches.
Das Natürliche — ist das Chaos. Ja, die Seele ist ein
weites Land“. Diesen Satz illustriert der Dichter an
einer großen Zahl von Personen, angefangen vom
Dummen Gustl bis zun brutalen Scheinherrenmenschen
Hofreiter. Ein menschlich weites Land, ein Land un¬
begrenzter Möglichkeiten tut sich da auf; und doch wie¬
der ein so unendlich enges Land, wenn es fehlt
fast allen Gestalten, was die Seele eigentlich „weitet":
Die Reinheit der Gesinnung, des Herzens. Im ganzen
Stück herrscht eine ungesunde, schwüle Atmosphäre.
Ihre Verkörperung sozusagen ist der Fabrikant Hofrei¬
ster, ein Mensch, der „von jedem nimmt, was ihm gerade
skonveniert“ kalt — boshaft, für Frauen unwidersteh¬
flich. Sie sind ihm die Hauptsache im Leben, eine Geliebte
söst die andere ab.
Genia, seine Gattin, kann
Krotzdem innerlich nicht von ihm loskommen und treibt
dadurch einen Künstler, der um ihre Liebe wirbt, in den
Tod. Aber als Friedrich, statt sich ihr wieder zu nähern,
ein enes Verhältnis anknüpft, mit Erna Wahl, da gibt
sie sich dem jungen Fähnrich Otto von Aigner hin, da
ssie ihn nicht auch wegen einer solchen Kleinigkeit in den
Tod treiben wollte. Diese Begründung ist ebenso servol
jals jene Hofreiters, nachdem er den Fähnrich gefordert
hat. Weder Haß noch Eifersucht noch Liebe spielten da¬
bei mit, allem der Gedanke: „Man will doch nicht der
Hopf sein.“ So knallte er schließlich seinen Gegner nie¬
der. „Bösewicht, eitler, grauenhafter Bösewicht“ wirft
ihm Genia ins Gesicht; jetzt ist sie von ihm los. Genias
und Friedrichs Freund ist der Arzt Mauer, das Sprach¬
rohr des Dichters. Auch ihn betrügt und belügt der rück¬
sichtslose Hofreiter, indem er ihm Erna, die eine gerade.
offene und mutige Natur ist, abspenstig macht. Ihm
ist diese ganze Welt der Lüge verhaßt. Er findet dieses
„Ineinander von Zurückhaltung und Frechheit, von fei¬
ger Eifersucht und erlogenem Gleichmut, von rasender
Leidenschaft und leerer Lust“ trübselig und — grauen¬
haft. Die Freiheit, die sich hier brüstet, grinst, wo sie
lachen will. Dies Ineinander, das nach Schnitzler mit
unserem gesellschaftlichen Leben untrennbar verknüpft
ist und vom Dichter verschiedentlich etwas aufdringlich
betont wird, solk tragikomisch wirken. Aber das kann
wohl auch durch eine noch so gute Darstellung nicht er¬
reicht werden. Denn wie in seinen anderen Werken, löst
sich auch hier die Handlung, besonders in den zwei ersten
Akten, zu sehr in Stimmung auf. Dramatisches Leben
verspüren wir erst gegen Schluß. Dann drängt sich das
Erotische in einer Weise vor, die in der Schlußszene des
dritten Aktes an das Brutale grenzt. Aber über all dem
sei nicht die Schönheit des Dialogs vergessen, der mit un¬
nachahmlicher Natürlichkeit und Reinheit geführt wird.
Nicht alle Darstellenden wußten den zarten Duft, der
Awie Melanie Ermarth
box 29/2
Karlsruher Zeitung, Karlsruhe i. B.
.9. 3. 1912
Großherzogliches Hoftheater. (A. Schnitzler, D6
weite Land.) Ein Kenner von Schnitzlers Eigen¬
art sagt, er sei unfähig zu jedem starken Lebensgenuß,
da ihm alles naive Empfinden, alle Einheitlichkeit im
Lieben und Hassen versagt sei; es fehle deshalb dem
Dramatiker das kraftvolle Zugreifen, dieser Mangel
verweise ihn immer wieder auf die bohrende Betrach¬
tung seelischer Zustände, seine eigene seelische Zerrissen
heit zwinge ihn zum Ergründen des Psychischen.-
Was ist das weite Land?, Schnitzler sagt es uns durch
den Hoteldirektor von Aigner: .. „Sollt es Ihnen
(er unterredet sich gerade mit Hofreiter über seine Ehe¬
scheidung) noch nicht aufgefallen sein; was für kompli¬
zierte Subjekte wir Menschen im Grunde sind? So
vieles hat zugleich Raum in uns —! Liebe und Trug,
Treue und Treulosigkeit. Anbetung für die eine und
Verlangen nach einer andern, oder nach mehreren. Wir
versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es
geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas künstliches.
Das Natürliche — ist das Chaos. Ja, die Seele ist ein
weites Land“. Diesen Satz illustriert der Dichter an
einer großen Zahl von Personen, angefangen vom
Dummen Gustl bis zun brutalen Scheinherrenmenschen
Hofreiter. Ein menschlich weites Land, ein Land un¬
begrenzter Möglichkeiten tut sich da auf; und doch wie¬
der ein so unendlich enges Land, wenn es fehlt
fast allen Gestalten, was die Seele eigentlich „weitet":
Die Reinheit der Gesinnung, des Herzens. Im ganzen
Stück herrscht eine ungesunde, schwüle Atmosphäre.
Ihre Verkörperung sozusagen ist der Fabrikant Hofrei¬
ster, ein Mensch, der „von jedem nimmt, was ihm gerade
skonveniert“ kalt — boshaft, für Frauen unwidersteh¬
flich. Sie sind ihm die Hauptsache im Leben, eine Geliebte
söst die andere ab.
Genia, seine Gattin, kann
Krotzdem innerlich nicht von ihm loskommen und treibt
dadurch einen Künstler, der um ihre Liebe wirbt, in den
Tod. Aber als Friedrich, statt sich ihr wieder zu nähern,
ein enes Verhältnis anknüpft, mit Erna Wahl, da gibt
sie sich dem jungen Fähnrich Otto von Aigner hin, da
ssie ihn nicht auch wegen einer solchen Kleinigkeit in den
Tod treiben wollte. Diese Begründung ist ebenso servol
jals jene Hofreiters, nachdem er den Fähnrich gefordert
hat. Weder Haß noch Eifersucht noch Liebe spielten da¬
bei mit, allem der Gedanke: „Man will doch nicht der
Hopf sein.“ So knallte er schließlich seinen Gegner nie¬
der. „Bösewicht, eitler, grauenhafter Bösewicht“ wirft
ihm Genia ins Gesicht; jetzt ist sie von ihm los. Genias
und Friedrichs Freund ist der Arzt Mauer, das Sprach¬
rohr des Dichters. Auch ihn betrügt und belügt der rück¬
sichtslose Hofreiter, indem er ihm Erna, die eine gerade.
offene und mutige Natur ist, abspenstig macht. Ihm
ist diese ganze Welt der Lüge verhaßt. Er findet dieses
„Ineinander von Zurückhaltung und Frechheit, von fei¬
ger Eifersucht und erlogenem Gleichmut, von rasender
Leidenschaft und leerer Lust“ trübselig und — grauen¬
haft. Die Freiheit, die sich hier brüstet, grinst, wo sie
lachen will. Dies Ineinander, das nach Schnitzler mit
unserem gesellschaftlichen Leben untrennbar verknüpft
ist und vom Dichter verschiedentlich etwas aufdringlich
betont wird, solk tragikomisch wirken. Aber das kann
wohl auch durch eine noch so gute Darstellung nicht er¬
reicht werden. Denn wie in seinen anderen Werken, löst
sich auch hier die Handlung, besonders in den zwei ersten
Akten, zu sehr in Stimmung auf. Dramatisches Leben
verspüren wir erst gegen Schluß. Dann drängt sich das
Erotische in einer Weise vor, die in der Schlußszene des
dritten Aktes an das Brutale grenzt. Aber über all dem
sei nicht die Schönheit des Dialogs vergessen, der mit un¬
nachahmlicher Natürlichkeit und Reinheit geführt wird.
Nicht alle Darstellenden wußten den zarten Duft, der
Awie Melanie Ermarth