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24. Das weite-Land
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin HO. 43, Georgenkirchplatz 21!
Berliner Tageblatt
Zeitung teseseegessereeteeseeae rereERREREERERREREEREPREAA
OfT: A
Datum: -
fn0
Schnitzler: „Das weite Land“.
Residenzcheater.
∆
Vor zehn Jahren gab man dieses Werk zuerst. Anno Agabir;
Lloyd George und Asquith wetterten gegen unsere Treiber; die Welt
hatte Bauchgrimmen . .. aber noch nicht die Cholera.
Man könnnte jetzt mit gehobenem Zeigefinger als criticus be¬
haupten: „Die schrankenlose Selbstsucht (das Adjektiv „schrankenlos“
gehört halt zu „Selbstsucht") . .. schrankenlose Selbstsucht all' dieser
schnitzlerischen Menschen läßt schon die, drei Jahre darauf einsetzende,
Weltkatastrophe deutlich ahnen.“ Oder so.
Wahr ist: daß bei gleicher Seelenverfassung dieser schnitzlerischen
Menschen Oesterreich ruhig hätte siegen können.
Seid's einfach, Kinderln. Wenn es nur sonst anders kam!
II.
Hat sich das Stück in zehn Jahren verändert? Nämlich: hat
Schnitzler es verändert?
Oder hat sich der Eindruck verändert? Nämlich: haben wir
uns verändert?
Drittens: oder haben die Darsteller es verändert?
.Die Darsteller natürlich. Schnitzler nicht. Wir bestimmt.
Ein Beispiel. Dazumal fand man etwa: „Dieses Stück ist breit.“
Heut findet man: „Diese Stückt sind breit ... Ein Unterschied —
mit den Fingerspitzen zu fühlen.
Dazumal schien der Schluß vielleicht unklar. Heut wäre Klar¬
heit ein Grund zum Hohn. Alles ist Einstein. (Bloß Einstein ist
nicht Einstein.)
Das Werk hat nach zehn Jahren seinen Wert. Sieht wie ein
Gesellschaftsstück aus . . . und ist ein Seelenstück. Denn die Seele
bedeutet hier (so gemeinplätzig es klingt) jenes weite Land — wo
nebeneinander höchst Widersprechendes haust.
Dieser Ichmensch in der Mitte, der hinreißende Glühlichtfabri¬
kant; diese Bankiersfrau; dieser Pianist; dieser Marinefähnrich;
diese stille Gattin; dies junge Mädchen: alle lieben durcheinander
mit und ohne Widerstand. Und Etliche tun, was sie gar nicht
wollen.
Etliche tun, was absonderlich scheint, wenn jemand bloß das
am nächsten zu Erwartende kennt . . . (Aber so handeln ja viele
tagtäglich — nur ohne daß ein Dichter sie belauert, festhält, ent¬
larvt. Bitte sehr, auch Bürger.)
Also die Menschen hier gieren und girren rings; lieben ohne
Areue, sind untreu ohne Liebe; sündigen ohne Nor; rächen sich ohne
Zorn: töten ohne Groll; sind eitel ohne Größe; liebenswert ohne
Verlaß: freundlich ohne Gewissen.
Es gibt nur a Kaiserstadt.
W.
Ein Donau=Europäer schrieb das Stück. Seine Leute stammen
zwar aus Wien: doch ihre Sorgen sind nebenher allmenschlichen In¬
halts.
Moral kennen sie nicht. Es ist nur ein Unterschied zwischen einem,
der noch keine kennt . .. und einem, der keine mehr kennt. (Denn
der kennt sie ja doch — möcht' man sprechen.)
Wie steht zu den Leuten Schnitzler selbst? Verabscheut er stes,
Billigt er sie? — Er zeigt sie. Ecco.
Dieses Stück ist wirklich am Schluß etwas breiter als ... diese
Stücke. Doch ein Landgewinner schuf es.
Der Rotter wächst mit seinen größern Zwecken. Die Triesch ist!
stark im Leid (wenn sie „Auf Wiedersehn!“ mit gepreßter Seele sagt).
Die Bertens bringt einen prachtvollen Akkord von schwerem Ernst. —
von alleinstehender Menschenwurde. Der alte Franz Schönseld,
Leutnantsspieler ehedem, zog aus der Stille seines Kyffhäusers.
Frau Gisela Schneider=Nissen in gewinnendem Umfang auch. Ger¬
trud Welker (jetzt ein Gang und eine Stimme; beides lockend);
Schroth; Josef Klein; Annelise Halbe, die Tochter vom Max, reizvoll
und spritzig; — kurz: alles da. Selbst eine Art Regie. Schau'!
Und der Korff?
Der Korff gibt den Glühlichtfabrikanten. Im Tempo, im
Wienertum, in der Ueberlegenheit, im Leicht=Lässigen bemerkenswert.
Eine „schöne Leistung“ — nur bis auf den Schluß. (Nur?)
Den Allesmacher, den verfluchten Kerl, den siegreichen Hahn,
den Mittelpunkt, das Mottenlicht, den feschen Schuft, den sinnlichen
Selbstling, der liebenswürdig über Leichen hastet — den kann er.
Als aber der Ichbold von der Ringstraße sein Waterloo
derlebt ... das kann er eigentlich nicht so gut.
Dieser dämonisch=sündhafte Fabrikant Friedrich Hofreiter soll
auch Poseurzüge haben. Zwischendurch zweifelt man: hat sie der
Hofreiter
oder hat sie der Korff?
Ich brüte. Brüten tu' ich. Also der Hofreiter hat sie.
Alfred Kerr.
24. Das weite-Land
Klose & Seidel
Bureau für Zeitungsausschnitte
Berlin HO. 43, Georgenkirchplatz 21!
Berliner Tageblatt
Zeitung teseseegessereeteeseeae rereERREREERERREREEREPREAA
OfT: A
Datum: -
fn0
Schnitzler: „Das weite Land“.
Residenzcheater.
∆
Vor zehn Jahren gab man dieses Werk zuerst. Anno Agabir;
Lloyd George und Asquith wetterten gegen unsere Treiber; die Welt
hatte Bauchgrimmen . .. aber noch nicht die Cholera.
Man könnnte jetzt mit gehobenem Zeigefinger als criticus be¬
haupten: „Die schrankenlose Selbstsucht (das Adjektiv „schrankenlos“
gehört halt zu „Selbstsucht") . .. schrankenlose Selbstsucht all' dieser
schnitzlerischen Menschen läßt schon die, drei Jahre darauf einsetzende,
Weltkatastrophe deutlich ahnen.“ Oder so.
Wahr ist: daß bei gleicher Seelenverfassung dieser schnitzlerischen
Menschen Oesterreich ruhig hätte siegen können.
Seid's einfach, Kinderln. Wenn es nur sonst anders kam!
II.
Hat sich das Stück in zehn Jahren verändert? Nämlich: hat
Schnitzler es verändert?
Oder hat sich der Eindruck verändert? Nämlich: haben wir
uns verändert?
Drittens: oder haben die Darsteller es verändert?
.Die Darsteller natürlich. Schnitzler nicht. Wir bestimmt.
Ein Beispiel. Dazumal fand man etwa: „Dieses Stück ist breit.“
Heut findet man: „Diese Stückt sind breit ... Ein Unterschied —
mit den Fingerspitzen zu fühlen.
Dazumal schien der Schluß vielleicht unklar. Heut wäre Klar¬
heit ein Grund zum Hohn. Alles ist Einstein. (Bloß Einstein ist
nicht Einstein.)
Das Werk hat nach zehn Jahren seinen Wert. Sieht wie ein
Gesellschaftsstück aus . . . und ist ein Seelenstück. Denn die Seele
bedeutet hier (so gemeinplätzig es klingt) jenes weite Land — wo
nebeneinander höchst Widersprechendes haust.
Dieser Ichmensch in der Mitte, der hinreißende Glühlichtfabri¬
kant; diese Bankiersfrau; dieser Pianist; dieser Marinefähnrich;
diese stille Gattin; dies junge Mädchen: alle lieben durcheinander
mit und ohne Widerstand. Und Etliche tun, was sie gar nicht
wollen.
Etliche tun, was absonderlich scheint, wenn jemand bloß das
am nächsten zu Erwartende kennt . . . (Aber so handeln ja viele
tagtäglich — nur ohne daß ein Dichter sie belauert, festhält, ent¬
larvt. Bitte sehr, auch Bürger.)
Also die Menschen hier gieren und girren rings; lieben ohne
Areue, sind untreu ohne Liebe; sündigen ohne Nor; rächen sich ohne
Zorn: töten ohne Groll; sind eitel ohne Größe; liebenswert ohne
Verlaß: freundlich ohne Gewissen.
Es gibt nur a Kaiserstadt.
W.
Ein Donau=Europäer schrieb das Stück. Seine Leute stammen
zwar aus Wien: doch ihre Sorgen sind nebenher allmenschlichen In¬
halts.
Moral kennen sie nicht. Es ist nur ein Unterschied zwischen einem,
der noch keine kennt . .. und einem, der keine mehr kennt. (Denn
der kennt sie ja doch — möcht' man sprechen.)
Wie steht zu den Leuten Schnitzler selbst? Verabscheut er stes,
Billigt er sie? — Er zeigt sie. Ecco.
Dieses Stück ist wirklich am Schluß etwas breiter als ... diese
Stücke. Doch ein Landgewinner schuf es.
Der Rotter wächst mit seinen größern Zwecken. Die Triesch ist!
stark im Leid (wenn sie „Auf Wiedersehn!“ mit gepreßter Seele sagt).
Die Bertens bringt einen prachtvollen Akkord von schwerem Ernst. —
von alleinstehender Menschenwurde. Der alte Franz Schönseld,
Leutnantsspieler ehedem, zog aus der Stille seines Kyffhäusers.
Frau Gisela Schneider=Nissen in gewinnendem Umfang auch. Ger¬
trud Welker (jetzt ein Gang und eine Stimme; beides lockend);
Schroth; Josef Klein; Annelise Halbe, die Tochter vom Max, reizvoll
und spritzig; — kurz: alles da. Selbst eine Art Regie. Schau'!
Und der Korff?
Der Korff gibt den Glühlichtfabrikanten. Im Tempo, im
Wienertum, in der Ueberlegenheit, im Leicht=Lässigen bemerkenswert.
Eine „schöne Leistung“ — nur bis auf den Schluß. (Nur?)
Den Allesmacher, den verfluchten Kerl, den siegreichen Hahn,
den Mittelpunkt, das Mottenlicht, den feschen Schuft, den sinnlichen
Selbstling, der liebenswürdig über Leichen hastet — den kann er.
Als aber der Ichbold von der Ringstraße sein Waterloo
derlebt ... das kann er eigentlich nicht so gut.
Dieser dämonisch=sündhafte Fabrikant Friedrich Hofreiter soll
auch Poseurzüge haben. Zwischendurch zweifelt man: hat sie der
Hofreiter
oder hat sie der Korff?
Ich brüte. Brüten tu' ich. Also der Hofreiter hat sie.
Alfred Kerr.