II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 710

Beginn der Aera Rotter im Lessing=Theater. Das
Revue=Provisorium ist zu Ende. Jetzt heißt es: selbst ist
der Mann (oder: selbst sind die Männer). Ich hätte ge¬
wünscht: Roiters hätten an diesem Punkte die Kritik (die zu
99 Prozent gegen sie ist) mundtot gemacht, vielmehr: zu
sich herübergezwungen. Durch die Wahl eines neuen
Stückes, das den Stempel unserer Zeit trägt. Durch eine
Besetzung mit Schauspielern, die Neues zu sagen haben.
Aber sie bleiben im sicheren Port. Greifen wieder auf einen
alten Schnitzler zurück. Und besetzen ihn mit einem
Senioren=Konvent von Mimen. Die Folge: sie machen uns
gleichgültig. Gegen sie zu wettern, den 99 Prozent wäre
es eine Lust gewesen. Und ein paar Mutige (müde der schon
mechanischen Rotter=Beschimpfung) wären zu ihnen ge¬
standen; hätten allem Geheul gegenüber ohne Scheu be¬
kannt: wir nehmen Gutes und Neues und Wagemutiges
an, von wem es auch kommt. Nun aber: kein Neuland; ein
schlecht gelüftetes, dumpfes Museum.
Warum Schnitzler? Rotters werden sich als Tempel¬
hüter aufspielen. Etwa so: gerade Schnitzler an dieser
Stätte, im Hause Brahms! O, falsch verstandene Pietät!
Als Brahm Schnitzler und Hauptmann aufführte, waren
die ja Dichter ihrer Zeit, Moderne. Die Tradition des
Hauses, im Brahmschen Sinne, hätten die Rotters gewahrt,
wenn sie zum Beginn der neuen Aera des Hauses ein Be¬
kenntnis zur Dichtung ihrer Zeit abgelegt hätten. Schade
um die verpaßte Gelegenheit! Nun, statt daß der Sturm¬
wind der Zeit uns gepackt hätte, atmeten wir schwere
Moderluft.
Schnitzlers „Weites Land“ ist uns vielmehr eine
seelische Beengtheit. Das Kitschwort: „Die Seele ist ein
weites Land“ wird durch diese begrenzte Sphäre Lügen
gestraft. Schon neulich, als eine andere Bühne uns wieder
auf den „Einsamen Weg zu führen für nötig befand,
revoltierten wir gegen diese egozentrische Enge, gegen diese
kokettierende Selbstbespiegelung, die nur auf und in das
eigene, sich so wichtig nehmende Ich blickt. Noch pein¬
licher wirkt die Enge hier, wo uns zuge¬
mutet wird, die Perspektive des „weiten Landes“ darin
zu sehen. Wo uns mit heiligem Ernst, psychologischem
Ballast zugemutet wird, eine Sache tragisch zu
nehmen, bei der alle unsere Sinne nach der Komödie
schreten. Den Herrn Fabrikaten Hofreiter, vor dem kein
weibliches Wesen sicher ist, hat das Mißgeschick getroffen,
daß wir inzwischen mal über einen (gallisch lustigen)
„Hühnerhof“ gewandelt sind. Don Juan will es nicht mehr
gelingen, uns an das Tragische und Dämonische seiner
Natur glauben zu machen. Selbst auf der Opernbühne
wird er uns nur noch erträglich, wenn er sich stark buffo¬
nesk drapiert. Mag der Herr Hofreiter sich ernst nehmen)
wir tun ihm den Gefallen nicht mehr. Lachen vielmehr
ihn aus, wenn er, überall hin liebäugelnd, der Gattin
gegenüber Eifensuchtsanwandlungen nicht unterdrücken
kann; wenn er deren jungen Liebhaber niederknallt: aus
Eifersucht übrigens? oder wegen verletzter Eitelkeit? oder
aus Angst vor der, Haß gegen die Jugend? Wenn wir schon
dem dummen Jungen, eher noch seiner alten Mutter eine
Träne widmen wollen, — sie wird erstickt durch das Lachen
über die Motive des tragisch sich gebärdenden Mörders.
Freilich sagt Schnitzler: Tragikomödie. Aber es bleibt
beim Etikett. Die Gestaltung (wenn die Dialogisierung je
so weit kommt) ist von verzweifelter Ernsthaftigkeit.
Und, bei aller unendlichen Weitschweifigkeit, von einer
die seelische Beengtheit verratenden Kurzatmigkeit. Die
mühsam verdeckt werden soll durch das breite Episoden¬
werk. Durch diesen belanglosen Verlegenheitsakt in der
Mitte, der zudem durch die Unruhe der Szenenführung
irritiert. Wobei nicht verschwiegen sei, daß in den Episoden¬
figuren des Hoteldirektors und des Schriftstellers mensch¬
lich Wertvolleres und Echteres schwingt als in den Haupt¬
gestalten.
Ein „weites Land“ trennt uns von dieser Schnitzler¬
Welt. Und keine Verbindung mehr führt uns zu ihr
hinüber. Auch die Träger der Schauspielkunst jener Welt
und Zeit können sie nicht schaffen. Immerhin: es könnte
fast von Stilgefühl bei den Rotters zeugen, daß sie für die
Galvanisierung alte schauspielerisch Garde aufbieten.
Korff ist der typische Spieler jener Epoche, wenn man ihr
zugestehen will, daß sie Kultur besitzt. Wenigstens die
Kultur der äußeren gepflegten Form, des Verhaltens der
Leidenschaft. Dieser Korff ist ein Siegelbewahrer des guten
Tons in allen Lebenslagen. Ein Mensch, der in der „guten“
Gesellschaft nie unmöglich werden kann. Haltung ist alles.
Nicht so beherrscht die Triesch. In ihr flackert noch
immer ein Temperament, das aufs Losbrechen
00
wartet.
Sie steht Strindbergisch gegen Schnitz¬
ler. Möchte die Dulderin mit der Kämpferin
vertauschen. Neben ihr wächst am Schluß die Sandrock.
die Mutter des Getöteten, zu stiller Größe. Ganz schlicht
und einfach, ohne Pathos. Sonst sieht man Herrn Bonn,
Ratter, und die Schneider=Rissen, als geschwäßig
neugierige Frau Wahl von ausreichender Komik. Josef
Kleins Noblesse geht glatt in dem „anständigen“ Doktor
Mauer auf. Ganz verlassen in dieser Welt nur eine
jüngere Schauspielerin Ellen Tietz. Ist's schauspiele¬
rische Unbeholfenheit oder die Herbheit einer Natur, daß
sie der dem Don Juan Verfallenen innerlich völlig fremd
bleibt?
Der Spielleiter Kanehl hatte es nicht schwer, mit
der alten Mimenschar den Schnitzler=Ton zu treffen. Und
wenn die Langsamkeit des Tempos an unseren Nerven
riß, so darf er vielleicht gerade darum für sich in Anspruch
nehmen, daß er das Tempo seines Dichters innegehalten
habe.
Franz Köppen.