II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 776

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24. basite Land
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gesellschaftlichen Vergnügungen, unserer Offentlichkeit, unserer
Literatur den Stempel aufdrückt; das in allen Errungenschaften“
des modernen Lebens, also auch in seelischen Verzwicktheiten zu
Hause ist. Ein Geschlecht, das zwar gern von seinen Nerven spricht,
dem aber seine verseinerte Empfänglichkeit auch für schwierige und
rätselvolle Dinge doch nur zu einer argen Unempfindlichkeit im
ganzen verholfen hat und das gerade dann, wenn der schlichte
Mensch aufheult wie ein verwundetes Tier, keine Spur von
Nervosität verrät; ein Geschlecht, dem zwar, bei seiner intellektuellen
Ausbildung und seiner seelischen Gewandtheit, alles das „passieren“
kann, was einen Faust und einen Hamlet, einen Lear und einen
Othello zum Trübsinn oder zur Raserei bringt, das aber nichts
Großes erlebt, das nie trübsinnig und nie rasend wird, das kein
ungeheures Schicksal kennt, dem die unerträglichsten Geheimnisse
für eine interessante Zeitungsnachricht, ein amüsantes Jourgespräch,
ein erfolgreiches Theaterstück sehr willkommen sind. Ein Geschlecht
mit viel Kopf und wenig Herz; mit dem rechnerischen Auge des
Industrialismus, aus dem es hervorgegangen und den es nun
einsig ausbaut, ringsum im weiten Lande, im flachen Lande, in
einem Lande ohne Höhenluft = trotz der sashionablen Alpenhotels!
Es ist nicht das geistige Klima eines Ibsen oder Haupt¬
mann oder Schönherr, was uns aus der Schnitzler'schen „Tragi¬
komödie“ anweht; wenngleich eine Betrachtung des technischen
Gesüges manche Ahnlichkeit finden würde. Den Schnitzler'schen
Figuren fehlt der Hauch des Tragischen, so viele Ansätze zu
Gewissenskonflikten und zu bedeutsamer Charakterentwicklung im
Stoffe auch gegeben wären; und der Formung des Stoffes durch
den Dichter mangelt jede so naheliegende Satire, die die Wind¬
beutelei dieser halbschlächtigen modernen Menschen hohnlachend an
den Pranger stellen würde. Und so bewährt sich die Echtheit und
Ehrlichkeit des Schnitzler'schen Schaffens. Der Dichter steht den
Kreisen, die er schildert, nahe und hat in seinem eigenen Schauen
und Denken einen verwandten Zug. Mit überlegener Künstlichkeit
gestaltet er ein „Chaos“ der Leidenschaften und bringt alles ohne
Pose, ohne Übernehmen seiner Kraft und ohne erheucheltes Pathos.
Er hat das, was jene Kreise die „feinste Kultur“ nennen: ein
kühles Behagen an den Dingen, eine vornehme Gelassenheit auch
in verzweifelten Fällen, und dann eine unfehlbare Sicherheit in
der erstrebten Wirkung. Aus novellistischen Skizzen, aus psycho¬
logischen Epigrammen werden dankbare Rollen und eindrucks¬
volle Szenen und der Realismus eines alltäglich=leichten Gesprächs¬
tones erhebt sich zu einer artistischen Schönheit, in der hie und
da die melancholische Nachdenklichkeit eines tieferen Gemütes ver¬
söhnend aufblitzt.
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