II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 775

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und böse, von bürgerlich und romantisch zu stehen scheint, durch
die Heimkehr seines Sohnes aus der Ferne alsbald wieder dazu
gebracht wird, seiner Familie zu gehören; oder dieser Herr Natter,
ein geriebener Geldmensch, der seine Frau, die ein Dirnenleben
führt, abgöttisch liebt und alles einsetzt, nur um sie mitbesitzen zu
können — solche „problematische" Naturen, deren Seelenleben
sich aus „moralischen Unmöglichkeiten“ zusammensetzt, erinnern
uns nicht an ein weites Land, das auch in entlegenen Weltteilen
stets eine planvolle Schönheit und eine einheitliche Stimmung zur
Schau trägt, sondern vielmehr an gewisse landschaftliche Merk¬
würdigkeiten, die man eigens aufsuchen muß, um zu sehen, wie
grell und unvermittelt manchmal auch die große Meisterin Natur,
wie in einer schlechten Laune, die gegensätzlichsten Formen und
Stoffe nebeneinanderstellt und durcheinanderwürfelt; am meisten
wohl an jene unerquicklichen Landschaftsbilder, wo die sich aus¬
breitende Kultur nicht die rechte Anpassung an die Natur gefunden
hat, wo sie gegen die Natur eigentlich nicht aufkommt, sich aber
dadurch wehrt, daß sie die Gegend „verschandelt“. Also immer
nur ein enger Bezirk, eine vereinzelte Erscheinung, was wir zum
Vergleiche heranziehen dürfen, wenn wir dieses Seelenmischmasch
aus gesunden und kranken Trieben, aus unbezähmten Regungen
und willkürlich genährten Vorurteilen zu kennzeichnen haben.
Und dennoch verstehen wir, weshalb Schnitzler — vielleicht
mehr in einem dunklen Drange als mit hellem Bewußtsein —
jenen Titel gewählt hat. Es kam ihm darauf an, seine frag¬
würdigen Seelen eben nicht als etwas Besonderes oder Seltenes
aufzuzeigen. Zwar Alltagsmenschen, Durchschnittsmenschen sind sie
nicht. Sie zählen weder zu dem seelischen „Pöbel“, der überhaupt
nichts von inneren Widersprüchen weiß, noch zu dem „gebildeten
Mittelstand“ unter den moralischen Charakteren, der im Kampfe
mit gefährlichen Neigungen durch das Festhalten sittlicher Grund¬
sätze zu siegen weiß und aus den Irrgängen der Leidenschaft zu
jenem sicheren Halt zurückfindet, den die Ehre, die Religion, das
Gewissen darbieten. Sie zählen aber noch viel weniger zu jenen
höheren Naturen, bei denen entweder die Sittlichkeit so trieb¬
kräftig wird oder ein Trieb so entscheidende moralische Bedeutung
erlangt, daß das gewohnte Maß der Dinge seine Geltung verliert
und im tragischen Erlebnis die bestehende Ordnung verneint
wird, um eine neue Weltanschauung oder ein uraltes, ewiges
Gesetz in persönlichem Leiden — bis zum persönlichen Untergang —
zu verwirklichen. Zu diesen Helden und Märtyrern zählen sie
nicht. Sie sind keine Ausnahmsmenschen. Sie bevölkern unsere
Salons und unsere Kaffeehäuser; sie sind, wie Schnitzler aus¬
drücklich angibt, die „haute volée“ von Baden bei Wien, die die
fashionablen Hotels in den Dolomiten zum sommerlichen Stell¬
dichein benützt; sie sind das Premièrenpublikum des Burgtheaters.
Ein Geschlecht, das jetzt die Großstädte und die Badeorte
überflutet; das unseren künstlerischen Unternehmungen, unseren