II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 837

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24. basLand
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ganz zum Schluß, wenn wir schon sehr müde geworden
sind, tun wir einen Einblick in das wahre Innere
seiner Menschen oder vielmehr auch das nicht, aber wir
erleben etwas, das uns glauben machen könnte, wir
hätten seine Menschen durchschaut. Im Grunde ge¬
nommen sollen wir freilich auch das nicht, denn die
Seele des Menschen ist ein weites Land, und wenn im
Vordergrund Wälder und Wiesen sind, so können da¬
hinter öde Strecken liegen. Die moderne psychologische
Erkenntnis ist eben: die Seele des Menschen ist
ein Chamäleon, sie ist von einer unendlichen Anpassungs¬
fähigkeit, oder
wie es die Dichter resigniert und welt¬
schmerzlich=bitter auszudrücken pflegen — sie ist eine
ständige Lüge. Das ist eine an sich banale Erkenntnis,
die keinerlei künstlerischen Wert besitzt; der Dichter
vor allem der Dramatiker — hat uns eben nicht die
Tatsache vorzuweisen, daß des Menschen Seele ver¬
änderlich ist, er muß es uns für jeden Einzelfall be¬
weisen. Der Satz, den Schnitzler als Motiv seiner
Tragikomödie gewählt hat: „Die Seele ist ein weites
Land“ schlägt jeder entwicklungsfähigen Dramatik ins
Gesicht, da er einfach die notwendige künstlerische Be¬
schränkung nicht zuläßt. Immerhin könnte er als Leit¬
satz über unserer ganzen psychologisch=spekulativen Dra¬
matik stehen, allerdings nicht in goldenen Lettern, aber
in hellem elektrischen Licht, um die innern Mängel der
Dramen zu überblenden. Die Seele eines Goethe und
eines Shakespeare war gewiß ein weites Land; sie hätten
aber über kein Drama „Das weite Land“ geschrieben
und die Seelen ihrer Menschen damit gemeint. Ein
Faust begnügt sich damit, zu sagen: Zwei Seelen wohnen
ach! in meiner Brust; eines dieser dramatischen Unter¬
menschlein würde sicherlich renommieren: Zwölftausend
Seelen wohnen, seht! in meiner Brust, und — keine
will sich von der andern trennen.
Das weite Land. Ist es nicht vielleicht doch eher
ein enges Land? Bei dem Worte „weit“ dehnt sich der
Geist, man sieht weite, weite Flächen vor sich, unend¬
liches Land oder unendliches Meer. Das meint aber
der Dichter nicht. Das Verlangen, einen schönen Titel
zu finden, hat ihn einen Irrtum begehen lassen. Es
ist falsch, aus der Tatsache, daß hundert Schafe in einen
Stall gehen, zu schließen, der Stall müsse besonders groß
und geräumig sein; es ist falsch, aus der Mannigfaltig¬
keit der Regungen in einer Seele auf deren Weite zu.
schließen. Die Seelen der Schnitzlerschen Menschen sind¬
durchaus keine weiten Länder oder tiefen Meere, son¬
dern Wassertropfen, in denen es von mancherlei wimmelt.
Und das ist Schnitzlers Meinung auch, denn er be¬
gründet den Titel seiner Tragikomödie folgendermaßen:
„Sollt es Ihnen nicht aufgefallen sein, was für kompli¬
zierte Subjekte (kompliziert ist doch nicht weit!) wir
Menschen im Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum
in uns —! Liebe und Trug... Treue und Treu¬
losigkeit . .. Anbetung für die eine und Verlangen nach
einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl
Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese
Ordnung ist doch nur etwas Künstliches ... Das Na¬
türliche . .. ist das Chaos. Ja — mein guter Hof¬
reiter, die Seele . .. ist ein weites Land.“ Wenn asso
jemand heute Rührei mit Schinken und morgen Schinken
mit Rührei ißt, dann ist er nicht mehr abwechslungs¬
süchtig oder unbeständig (wie altmodisch auch diese Aus¬
drücke sind!), sondern seine Seele ist ein weites Land!