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24. basLand
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Falle der Ort sind, an dem der Schutt und die Asche
der Seele abgeladen werden kann: „Ich stell mir vor,
viele Dichter sind geborene Verbrecher — nur ohne die
nötige Courage — oder Wüstlinge, die sich aber nicht
gern in Ankosten stürzen... Von diesem Standpunkte
aus dürfte man wohl fragen: Warum wählt der Dichter
für sein Drama jene sterile Menschenklasse, die nicht
lebens= und noch viel weniger entwicklungsfähig ist, weil
sie eine Herde geistiger Troglodyten inmitten des Ningens
und Strebens unserer Zeit darstellt? Es ist jene
Menschenklasse, von der Sienkiewicz in seinem biogra¬
phischen Roman „Ohne Dogma“ sagt: „Wir andern
aber sitzen Tag für Tag auf irgend welchen Terassen,
plaudern über Kunst, Literatur, Liebe, Weiber; fern von
jenem Getriebe, fremd dem eigentlichen Leben, streichen
von der Woche die sechs Arbeitstage und lassen nur den
Sonntag stehen. Wir haben, ohne es zu wissen, Feier¬
tagsliebhabereien, Feiertagsnerven und Feiertagsseelen.
In wohligen Dilettantismus wie in ein warmes Bad
getaucht, ist unser Dasein halb Wirklichkeit, halb Traum.
Den Wiederkäuern gleich verzehren wir unsere ererbten
Güter, den überkommenen Vorrat von Muskel= und
Nervenkraft und verlieren langsam den Boden unter den
Füßen. Wir sind wie Flaumfedern, die der Wind ver¬
weht; kaum haben wir uns irgendwo niedergelassen, so
treibt das reale Leben uns fort, und wir geben nach,
denn wir haben nicht die Kraft, zu widerstreben. Wir
halten uns für die Blüte der Zivilisation, für die
höchste Sprosse der Leiter, und doch fehlt uns der Glaube
an uns selbst. Im Leben suchen wir instinktiv nur Feier¬
tagszustände, Genüsse, Glückseligkeit, und doch glauben
wir auch nicht mehr an das Glück. Zwar ist unser
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Pessimismus leicht und luftig wie die Rauchwölkchen
unserer Havannazigarren, doch verhüllt er uns darum
nicht minder den weiteren Horizont. Inmitten dieser
Rauchwolken, dieser Duftschleier schaffen wir uns eine
besondere Welt; weitab von dem großen Lebensgetriebe,
in sich selbst versunken, flieht unser Dasein unnütz und
verträumt dahin.“
In dieser Welt interessieren uns oder sollen uns
interessieren zwei Ehepaare. Die Männer haben es nicht
immer genau genommen mit der ehelichen Treue. Das
eine Ehepaar lebt getrennt voneinander; sie könnens,
weil Frau Meinhold=Aigner Schauspielerin ist; ihr
Mann, der Doktor von Aigner, ist Hoteldirektor, und
nach Ansicht eines Gastes setzt sich ein großer Teil seines
Personals aus seinen unehelichen Kindern zusammen.
Viel stärker nimmt jedoch das andere Ehepaar unsere
Aufmerksamkeit in Anspruch: Friedrich und Genia Hof¬
reiter.
Friedrich Hofreiter ist der Sherlock Holmes der
Liebe. Er überwacht seine Frau mit Argusaugen und
immer mit Erfolg; er ist eifersüchtig bis zur Raserei
(wie wir allerdings erst sehr, sehr spät erfahren); er wittert
in jedem Gedanken, in jeder Außerung seiner Frau die
versteckte Absicht, sich einem Liebhaber zu widmen. Das
alles wird jedoch von dem Dichter nur sachte, ganz
vorsichtig angedeutet, gleichsam, als sei ein Drama nur
ein Abendspaziergang in dem weiten Land der Seele.
Gegen sich selbst ist natürlich Hofreiter nicht sehr wach¬
sam; er betrachtet sich als ein willenloses Werkzeug der
Verhältnisse; er kann nichts dafür, wenn er mit der
Frau eines Freundes Ehebruch treibt, wenn er einen
andern niederschießt; das sind bei ihm Handlungen des
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Falle der Ort sind, an dem der Schutt und die Asche
der Seele abgeladen werden kann: „Ich stell mir vor,
viele Dichter sind geborene Verbrecher — nur ohne die
nötige Courage — oder Wüstlinge, die sich aber nicht
gern in Ankosten stürzen... Von diesem Standpunkte
aus dürfte man wohl fragen: Warum wählt der Dichter
für sein Drama jene sterile Menschenklasse, die nicht
lebens= und noch viel weniger entwicklungsfähig ist, weil
sie eine Herde geistiger Troglodyten inmitten des Ningens
und Strebens unserer Zeit darstellt? Es ist jene
Menschenklasse, von der Sienkiewicz in seinem biogra¬
phischen Roman „Ohne Dogma“ sagt: „Wir andern
aber sitzen Tag für Tag auf irgend welchen Terassen,
plaudern über Kunst, Literatur, Liebe, Weiber; fern von
jenem Getriebe, fremd dem eigentlichen Leben, streichen
von der Woche die sechs Arbeitstage und lassen nur den
Sonntag stehen. Wir haben, ohne es zu wissen, Feier¬
tagsliebhabereien, Feiertagsnerven und Feiertagsseelen.
In wohligen Dilettantismus wie in ein warmes Bad
getaucht, ist unser Dasein halb Wirklichkeit, halb Traum.
Den Wiederkäuern gleich verzehren wir unsere ererbten
Güter, den überkommenen Vorrat von Muskel= und
Nervenkraft und verlieren langsam den Boden unter den
Füßen. Wir sind wie Flaumfedern, die der Wind ver¬
weht; kaum haben wir uns irgendwo niedergelassen, so
treibt das reale Leben uns fort, und wir geben nach,
denn wir haben nicht die Kraft, zu widerstreben. Wir
halten uns für die Blüte der Zivilisation, für die
höchste Sprosse der Leiter, und doch fehlt uns der Glaube
an uns selbst. Im Leben suchen wir instinktiv nur Feier¬
tagszustände, Genüsse, Glückseligkeit, und doch glauben
wir auch nicht mehr an das Glück. Zwar ist unser
11
Pessimismus leicht und luftig wie die Rauchwölkchen
unserer Havannazigarren, doch verhüllt er uns darum
nicht minder den weiteren Horizont. Inmitten dieser
Rauchwolken, dieser Duftschleier schaffen wir uns eine
besondere Welt; weitab von dem großen Lebensgetriebe,
in sich selbst versunken, flieht unser Dasein unnütz und
verträumt dahin.“
In dieser Welt interessieren uns oder sollen uns
interessieren zwei Ehepaare. Die Männer haben es nicht
immer genau genommen mit der ehelichen Treue. Das
eine Ehepaar lebt getrennt voneinander; sie könnens,
weil Frau Meinhold=Aigner Schauspielerin ist; ihr
Mann, der Doktor von Aigner, ist Hoteldirektor, und
nach Ansicht eines Gastes setzt sich ein großer Teil seines
Personals aus seinen unehelichen Kindern zusammen.
Viel stärker nimmt jedoch das andere Ehepaar unsere
Aufmerksamkeit in Anspruch: Friedrich und Genia Hof¬
reiter.
Friedrich Hofreiter ist der Sherlock Holmes der
Liebe. Er überwacht seine Frau mit Argusaugen und
immer mit Erfolg; er ist eifersüchtig bis zur Raserei
(wie wir allerdings erst sehr, sehr spät erfahren); er wittert
in jedem Gedanken, in jeder Außerung seiner Frau die
versteckte Absicht, sich einem Liebhaber zu widmen. Das
alles wird jedoch von dem Dichter nur sachte, ganz
vorsichtig angedeutet, gleichsam, als sei ein Drama nur
ein Abendspaziergang in dem weiten Land der Seele.
Gegen sich selbst ist natürlich Hofreiter nicht sehr wach¬
sam; er betrachtet sich als ein willenloses Werkzeug der
Verhältnisse; er kann nichts dafür, wenn er mit der
Frau eines Freundes Ehebruch treibt, wenn er einen
andern niederschießt; das sind bei ihm Handlungen des