II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 24

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23. Der Schleiener Pierrette
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8 Freie Presss, Wien
rom: 30.0fl. 1910
Die Entstehung des „Schleiers der Pierrette“.
Philippo Loschi. Zwischen beiden schwankt sie noch am
Hochzeitstage. Und genau wie in der ursprünglichen
(Tragödie und Pantomime.)
Pantomimenfabel eilt sie nach der Hochzeit zum Geliebten.
Von Dr. Max Messer.
Aber auch Philippo ist jetzt eine tragische Figur geworden.
Die dramatische Dichtkunst ist die Königin der Poesie.
Die Pierrotzüge sind fast ganz verwischt, eher gewahren
Ihre Geschwister, die Lyrik, die Epik, und ihre vielen
wir an ihm Aehnlichkeiten mit „Anatol“, dem Helden der
Halbgeschwister sind nicht von minder edlem Blut. Aber
Schnitzlerschen Jugendstücke. Auch er ist eine schwankende
dem Drama gebührt der Vorrang. Während das Gedicht
Natur, seltsam stolz und in den Wünschen seiner Liebe
bloß zum Herzen oder Verstand des Lesers spricht,
von übertriebenster Empfindsamkeit. Daß Beatrice bloß
während die Erzählung uns Geschehnisse und menschliche
vom Herzog geträumt hat, empört ihn, so daß er sie von
Figuren nur vor das innere Auge zaubert, läßt der
sich stößt.
Dramatiker die Geschöpfe seiner Phantasie leibhaftig vor
Träume sind Begierden ohne Mut,
uns auferstehen, läßt uns in das Weben und Werden
Sind freche Wünsche die das Licht des Tags
des Schicksals schauen. Wir hören, wir sehen nach¬
Zurückjagt in die Winkel unfrer Seele,
geschaffene Menschen sprechen und handeln, und bleiben
Daraus sie erst bei Nacht zu kriechen wagen;
doch immer unsichtbare Zuschauer dieser fremden Geschicke.
Und solch ein Traum, mit ausgestreckten Armen,
Fremde Häuser und Wohnungen, fremde Seelen und
Sehnsüchtig läßt er, durstig dich zurück.
Herzen öffnen sich unseren begierigen Sinnen. Wie in
So wenig warst du mein, daß, schlossest du
Tarnkappen verhüllt, leben wir fremdes Leben mit. Im
Die Augen, deine Seel' auf Abenteuer
Drama ist die „Illusion“ am vollkommensten. Je echter
Ausfliegen konnte, und ich war dir nur
Von Tausend Einer, kniete wie die andern
und größer der Dichter, desto rascher vergessen wir an
Vor dir und war dir nichts und bin dir nichts,
ihn selbst, wenn der Vorhang in die Höhe schwebt und
Ich, der dir so viel gab, als du nicht ahnst,
sich nun ein Abbild des Lebens vor unseren Augen auf¬
So viel, daß meiner Liebe wert zu sein,
rollt. Neugierig und ergriffen wie Kinder folgen wir dem
Dich Ekel fassen müßte, wenn du denkst,
dramatischen Dichter in die Welt des Scheins. Je tiefer
Es leben andre Männer auf der Welt!
und wahrhaftiger seine Kunst, desto mehr wird der Schein
Willst du, daß, dem gefäll'gen Eh'mann gleich,
dem Sein gleichen, desto beglückter werden wir lauschen
Ich fremden Kuß von deinen Lippen trinke,
und schauen. Die dramatische Kunst der Griechen war
Und kommst daher als Dirne deines Traums ?1
Geh, Beatrice!“
angewandte, verbildlichte Religion. Der Dramatiker jener
Zeit hatte etwas Göttliches in seiner Kraft. Seine Hand
Und hinter all diesen seelischen Konflikten droht im
glich der Hand der Parzen, er lenkte das Schicksal.
Hintergrund erschütternd das große Schicksal: Cesar
Die Entwicklung des Dramas hat schon früh bizarre
Borgias Heer rückt an Bologna heran. Und morgen
Nebensormen gezeiligt, spielerische Abarten, die den thea¬
vielleicht schon ist diese Stadt zerstört und sind die hoch¬
tralischen Reiz des offenen, dramatischen Geschehens durch
gespannten Seelen dieser Menschen dem ermordeten Leib
entflohen.
Wegnahme eines Teiles der auf der Bühne wirkenden
Kräfte zu erhöhen suchten. Eine solche bizarre Abart des
Der „Schleier der Beatrice“ ist im Jahre 1901 er¬
Dramas ist das Puppenspiel. In allem anderen
schienen. Ihr Dichter ist von den Abarten des Dramas
mit dem Drama identisch, weicht es nur darin von ihm
immer wieder gelockt worden. Er hat jene entzückenden
ab, daß statt lebendiger Menschen am Draht gezogene
Puppenspiele geschrieben, unter denen der „Tapfere
Puppen die Handlung darstellen. Bewegung, Bühne,
assian“ (in Musik gesetzt von Oskar Straus) als
Meisterwerk hervorleuchtet.
Rede und Gegenrede sind geblieben. Man hat dem
Organismus des Dramas nur den lebendigen Menschen,
Einer äußeren Anregung folgend, hat Artur
den Schauspieler, entzogen, und an seine Stelle die Puppe
Schnitzler nun, wie er uns erzählte, dem „Schleier der
gesetzt.
Beatrice" noch einmal den Stoff zu einer Pantomime
Die zweite, ebenso seltsame Abart des Dramas ist die
entnommen. Jener Kern der Handlung, der schon im
Därsteller,
Pankomime. Bühne, lebendiger
Jahre 1892 Stoff einer Pantomime gewesen ist, ist im
Be¬
wegung und Mienenspiel sind geblieben. Aber das
Grunde genommen auch der wesentliche Inhalt der neuen
lebendige Wort ist ausgeschaltet, durch stummes Ge¬
Pantomime „Der Schleier der Pierrette“, Freilich ist der
bärdenspiel ersetzt. Was das lebendige Wort leicht ver¬
Entwicklungsweg, den diese Handlung bis zum großen
deutlicht, wird hier dem Zuschauer durch die Geste des
Renaissancedrama geschritten ist, auf die neue Arbeit nicht
Schauspielers, durch begleitende und erklärende Musik
ohne Einfluß geblieben. Auch die neue Pantomime ist
verdolmeischt.
tragischen Ausganges. Arlekino, der Gatte Pierrettens,
Puppenspiel und Pantomime sind in gewissem Sinne
hat deutliche Züge vom Herzog Bentivoglio übernommen,
krüppelhafte Tramen, Es jehlt ihnen ein Glied des ge¬
ebenso Pierrot von Philippo Loschi. Vierrette verläßt das
sunden und vollkommenen Dramas. Diese Abarten haben
Hochzeitsmahl, um den armen Pierrot ein letztesmal zu
den Reiz des Ungewöhnlichen. Sie sind artistische Kunst¬
sehen und mit ihm zu sterben. Pierrot aber entreißt ihr
stücke, bewunderungswert, aber in höherem Sinne nicht
das Gift, trinkt es allein. Pierrette flüchtet zu Arlekino
notwendig. Paganini spielte ein Violinkonzert auf einer
zurück, der ihr das Geständnis entreißt und sie zwingt,
Saite. So verzichtet auch hier der Dichter auf die Ge¬
ihn dorthin zu führen, wo sie ihren Schleier verloren
samtheit der Mittel, um durch den kunstvollen Ersatz des
hat. Ganz neu ist nun der grotesk=tragische Schluß der
Fehlenden neue Reize und Wirkungen auszulösen.
Pantomime. Arlekino nimmt fürchterliche Rache an Pierrot
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