II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 25

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Die Entwicklung des Dramas hat schon früh hizarre
Nebensormen gezeiligt, spielerische Abarten, die den thea¬
tralischen Reiz des offenen, dramalischen Geschehens durch
Wegnahme eines Teiles der auf der Bühne wirkenden
Kräfte zu erhöhen suchten. Eine solche bizarre Abart des
Dramas ist das Puppenspiel. In allem anderen
mit dem Drama identisch, weicht es nur darin von ihm
ab, daß statt lebendiger Menschen am Draht gezogene
Puppen die Handlung darstellen. Bewegung, Bühne,
Rede und Gegenrede sind geblieben. Man hat dem
Organismus des Dramas nur den lebendigen Menschen,
den Schauspieler, entzogen, und an seine Stelle die Puppe
gesetzt.
Die zweite, ebenso seltsame Abart des Dramas ist die
Pankomime. Bühne, lebendiger Darsteller, Be¬
wegung und Mienenspiel sind geblieben. Aber das
lebendige Wort ist ausgeschaltet, durch stummes Ge¬
bärdenspiel ersetzt. Was das lebendige Wort leicht ver¬
deutlicht, wird hier dem Zuschauer durch die Geste des
Schauspielers, durch begleitende und erklärende Musik
verdolmetscht.
Puppenspiel und Pantomime sind in gewissem Sinne
krüppelhafte Tramen, Es fehlt ihnen ein Glied des ge¬
sunden und vollkommenen Dramas. Diese Abarten haben
den Reiz des Ungewöhnlichen. Sie sind artistische Kunst¬
stücke, bewunderungswert, aber in höherem Sinne nicht
notwendig. Paganini spielte ein Violinkonzert auf einer
Saite. So verzichtet auch hier der Dichter auf die Ge¬
samtheit der Mittel, um durch den kunstvollen Ersatz des
Fehlenden neue Reize und Wirkungen auszulösen.
Der Telegraph hat vor einigen Tagen gemeldet, daß
die Pantomime „Der Schleier der Pierrette“
von Artur-Schtte (Musik von Ernst v. Doh¬
nanyi) an der königlichen Hofoper in Dresden einen
großen Erfolg errungen hat. Man vernahm weiters, daß
diese Pantomime, wie schon ihr Titel andeutet, aus einer
früheren dramatischen Dichtung Artur Schitzlers empor¬
gewachsen ist. Wenn wir statt „Pierrette“ Beatrice setzen,
so steht jene Tragödie vor uns, die mit ihrem Reichtum
an Gestalten und Vorgängen, ihrer symbolischen Tiefe,
der prunkvollen Schönheit ihrer Verse einen Gipfel der
bisherigen dramatischen Produktion des Dichters bedeutet.
Das Wiener Publikum hat es einer Unterlassungssünde
der Direktion Schlenther zuzuschreiben, daß es den
„Schleier der Beatrice“ auf der Bühne nicht zu
sehen bekam. Den Dichter mag es vielleicht in dem Ent¬
schlusse bestärkt haben, den dramatischen Kern der Tra¬
gödie zu einer Pantomime unzugestalten.
Dies nimmt um so weniger wunder, als der
„Schleier der Beatrice“
wie Artur Schnitzler uns
neulich erzählte — schon in seiner ersten, nicht veröffent¬
lichten Fassung eine Pantomime gewesen ist. Im Jahre
1892 war sie entstanden. Sie spielte im Altwiener Kostüm.
Die Handlung bestand darin, daß Pierrette, ein Wiener
Mädel, von ihrer Hochzeit mit Arlekino weg zu ihrem
früheren Geliebten Pierrot läuft. Diese ursprüngliche
Pantomime war lustspielmäßig gedacht. Der Konflikt löste
sich zum Wohlgefallen aller Beteiligten. Es war ein
Atelierscherz.
Aus dieser heiteren Pantomime wuchs ein Schau¬
spiel heraus, das noch immer in wienerischem Kostüm
spielte. Während der Arbeit an diesem Drama kam der
Dichter erst zum Entschlusse, die Handlung in die
Renaissancezeit zu verlegen, da, wie er uns sagte, die
Menschen seiner Dichtung ihm nicht mehr in das moderne
Kostüm zu passen schienen. Aus dem Scherzspiel wurde eine
Tragödie. Pierrot ist nunmehr der Dichter Philippo Loschi,
Beatrice ist die Tochter eines Wappenschneiders in
Bologna, Arlekino ist Lionardo Bentivoglio, Herzog von
Bologna. Aber der Kern der Fabel ist unverändert ge¬
blieben. Beatrice läuft von ihrer Hochzeit mit dem Her¬
zog Bentivoglio weg zu Philippo Loschi, ihrem Geliebten,
und verrät sich dem Gatten zurückkehrend damit, daß sie
den Schleier bei dem Geliebten vergessen. Wie bewunde¬
rungsmürdig reich ist jedoch in der neuen Tragödie dieser
Kern der Handlung umsponnen! Aus dem einfachen
Wiener Mädel ist in Beatrice eine wunderbare, rührende,
seltsame Frauenfigur geschaffen, in deren Brust zwei
Seelen wohnen: eine naive, lebensfreudige, an Glanz
und Genuß hängende (das frühere Wiener Mädel aus
dem Vormärz) — und eine komplizierte, tragische,
isoldenhafte. Mit dem einen Teil ihrer Seele liebt sie den
Herzog Bentivoglio, mit dem anderen den Dichter!!
e e eschseheree
vielleicht schon ist diese Stadt zerstört und sind die hoch¬
gespannten Seelen dieser Menschen dem ermordeten Leib
entflohen.
Der „Schleier der Beatrice“ ist im Jahre 1901 er¬
schienen. Ihr Dichter ist von den Abarten des Dramas
immer wieder gelockt worden. Er hat jene entzückenden
Puppenspiele geschrieben, unter denen der „Tapfere
Cassian“ (in Musik gesetzt von Oskar Straus) als
Meisterwerk hervorleuchtet.
Einer äußeren Anregung folgend, hat Artur
Schnitzler nun, wie er uns erzählte, dem „Schleier der
Beatrice“ noch einmal den Stoff zu einer Pantomime
entnommen. Jener Kern der Handlung, der schon im
Jahre 1892 Stoff einer Pantomime gewesen ist, ist im
Grusde genommen auch der wesentliche Inhalt der neuen
Pantomime „Der Schleier der Pierrette“. Freilich ist der
Entwicklungsweg, den diese Handlung bis zum großen
Renaissancedrama geschritten ist, auf die neue Arbeit nicht
ohne Einfluß geblieben. Auch die neue Pantomime ist
tragischen Ausganges. Arlekino, der Gatte Pierrettens,
hat deutliche Züge vom Herzog Bentivoglio übernommen,
ebenso Pierrot von Philippo Loschi. Pierrette verläßt das
Hochzeitsmahl, um den armen Pierrot ein letztesmal zu
sehen und mit ihm zu sterben. Pierrot aber entreißt ihr
das Gift, trinkt es allein. Pierrette flüchtet zu Arlekino
zurück, der ihr das Geständnis entreißt und sie zwingt,
ihn dorthin zu führen, wo sie ihren Schleier verloren
hat. Ganz neu ist nun der grotesk=tragische Schluß der
Pantomime. Arlekino nimmt fürchterliche Rache an Pierrot
(im „Schleier der Beatrice“ vollzieht Francesco, Beatricens
Bruder, die Rache). Er schleppt den toten Pierrot zum
Tisch, setzt ihn auf den Divan und zwingt Pierette, mit
ihrem toten Geliebten und ihm zu pokulieren. Dann
läßt er sie mit dem Toten allein, eilt davon, versperrt die
Türe hinter sich. Pierrette findet keinen Ausweg. Sie
ist allein mit dem Toten und wird wahnsinnig.
Schnitzler hat mit feinem künstlerischen Geschmack
für diese Pantomime wieder das Altwiener Kostüm ge¬
wählt. So wie ihn vor Jahren die seelische Entwick=
lung und Umgestaltung dieser Figuren in der Tra¬
gödie notwendig zur Renaissancezeit führte, führte ihn
jetzt die Pantomime mit ihrem Einschlag ins Märchen¬
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und Zauberhafte wieder ins Altwiener Kostüm zurück.
„Der Schleier der Pierrette“ hat in seiner Handlung de
und Wirkung etwas, das an die Gestalten und Begeben=9.
heiten der Werke P. T. A. Hoffmanns erinnert. Das

Geheimnisvolle und Gruselige, das Wilde und Gespenster¬
haste ersetzt hier romantisch den Schimmer des Klassischen,
der uns in der farbigen, reichen Welt der Tragödie ent¬
zückt hat, aus der sie stammt.
Artur Schnitzler erzählt uns, daß die Rolle des
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Pierrot, in der schaurigen Schlußszene, wo Pierrot als
Toter mitspielt, Alexander Girardi gelockt habe und der
Künstler den Wunsch ausgesprochen habe, diese Rolle zu
spielen.
Man hat in Wien, außer dem „Verlorenen Sohn“
und der „Statue des Kommandeurs“ (bei der Tewele mit¬
spielte), schon lange keine Pantomime gesehen.
„Der Schleier der Pierrette“ ist das Werk eines
Wiener Dichters, eines Wiener Komponisten. Viel¬
leicht wird man es auch in Wien zu sehen und zu hören
bekommen.