II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 35

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23. Der Schleiender Pierrette
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wird. Ihre Aufführung steht gleichfalls in Dresden bevor. Der dritte
musikalische Schnitzlerianer ist nun der Ungar Ernst von Dohnanyi.
Der „Schleier der Pierrette“ ist aus dem „Schleier der Beatrice"
entstanden. Die Handlung ist aus der Renaissancezeit in das wiener
Biedermeier=Milien verlegt, und die Hauptgestalten haben die Masken
von Pierrot, Pierrette und Harlekin bekommen. Zwei Akte des Ori¬
ginal=Entwurfs sind radikal amputiert. An ihrem Hochzeitsabend geht
Pierrette ihrem Bräutigam durch. Sie flieht zu ihrem geliebten
Pierrot, ohne den das Leben für sie keinen Wert hat. Kann sie mit
ihm nicht mehr leben, so will sie im Tode mit ihm vereint sein. Das
Gift hat sie mitgebracht. Pierrot ist einverstanden und nimmt zuerst
den Todestrank. Aber als Pierrette ihren Geliebten sterben sieht, er¬
faßt sie namenlose Angst, und sie verläßt entsetzt das Gemach, ihren
Schleier unversehens zurücklassend. Harlekin hat inzwischen die Ab¬
wesenheit der Braut bemerkt, und an der Unordnung ihrer Kleider
erkennt er, daß etwas vorgegangen sein müsse. Pierrette ist nicht
imstande, ihre Verlegenheit zu bemänteln. Im Tanze mit ihm ver¬
sucht sie, den Verdacht Hurlekins abzulenken. Da verlöschen die Lichter
im Saal, und Pierrot steht als Gespenst vor ihr, nur ihr sichtbar. Die
Erscheinung verläßt sie nicht, und alle Versuche, sie zu bannen, sind
vergebens. Sie verläßt noch einmal den Tanzsaal und kehrt zurück
ins Atelier. Harlekin ihr nach. Dort liegt noch immer Pierrot als
Leiche. Der Betrogene bemerkt das Giftfläschchen und errät den Zu¬
sammenhang. Er nimmt gräßliche Rache. Nachdem er die Leiche vom
Boden aufgehoben und sie in sitzende Stellung gebracht hat, zwingt er
Pierrette, mit ihr anzustoßen und zu trinken. Dann entfernt er sich.
Krachend fällt die Tür ins Schloß. Pierrette, mit der Leiche allein,
wird wahnsinnig. Sie beginnt zu tanzen. Immer toller wird ihr
Reigen, bis sie zusammenbricht. Pierrots Freunde dringen gewaltsam
ins Zimmer und finden zwei Tote.
Zu dieser auf die Nerven gehenden Handlung hat Ernst von
Dohnanyi eine ungemein interessante und nicht minder aufregende
Musik geschrieben. Eine Musik, die allerdings nicht verleugnet, daß
sie ihr Bestes von Vorbildern genommen hat, aber die auch genügend
eigene Intuition besitzt, um als starke Talentprobe gewertet werden
zu können. Berlioz, Wagner und Richard Strauß sind die Vorläufer
Dohnanyis. Aber selten wurde Uebernommenes mit so klugem Raf¬
finement verarbeitet und so geschickt mit dem eigenen Ideenvorrat
amalgamiert. Dohnanyi war weit davon entfernt, eine blos illustrative
Pantomimenmusik zu schreiben, mit Polkas, Walzer und Märschen und
verbindendem Rezitativ. Er ist ein Musikdramatiker in gut Wagner¬
schem Sinne; er weiß für jede Situation den adäquaten Ausdruck und
ein originelles Kolorit zu finden. Die schauerlich groteske Stimmung
im zweiten Akt ist geradezu verblüffend getroffen. Klar und
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