II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 44

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23. Der Schleiender Pierrette
Denken herzustellen, so wird er, wenn ihm nicht der Glücksfall be¬
sonderer Empfehlungen weiter hilft, auf einmal ratlos stecken bleiben.
Er wird nun erst gewahr, daß die Hunderttausende zwar dicht neben
ihm, aber dennoch in einer ganz andern Stadt leben; in einer fremden
und fernen Stadt, deren Inneres ihm streng verschlossen bleibt. Ein¬
druck und Urteil sind dauernd auf die unsichern Zeichen angewiesen,
die etwa das Leben der Straße und die sonstige allgemein zugängliche
Oeffentlichkeit hergeben mag.
Und wer sich mit besonderer Liebe daran gewöhnt hat, solche
Zeichen aus dem Spiel der Bühne zu lesen und zu deuten, der hat an
diesem Theater den nächsten und ergiebigsten Anhalt. Hier beschwich¬
tigt sich der Drang, vom andern zu wissen und ihm, auf Stunden
wenigstens, geistig nahe zu sein. Dieses Nationaltheater ist soweit
europäisch, daß sich der Anderssprachige darin nicht völlig ins Weglose
verlieren muß, und doch so sehr national, daß sich seine Zugehörigkeit
zu diesem bestimmten Volkstum in keinem Momente des Spiels und
in keiner Bewegung der Zuschauer verleugnen kann. (Fortsetzung folgt)
Gregors Kalender von Paul Stefan
ieser Beginn“ mit „dem „Rosenkavalier“ war für den neuen
Direktox einExfolg mit geringen Mühen, fast ein zugewehtes
Glück. Und sogar, ein Käffenerfslg. Denn zuerst wollten alle
sehen, ob Hofmanusthal wirklich verdiente, von den öffentlich Meinen¬
den herabgekanzelt zu werden, ob denn Strauß wirklich und end¬
gültig erledigt sei. Die aber gesehen und gehört hatten, schienen all¬
mählich das genaue Gegenteil zu glauben und kamen erst recht wieder.
Ein Zugstück bis auf diese Tage, in denen es schon eine neue Spiel¬
zeit einleiten und stützen muß. Aber dann kam Pelleas. Wirklich und
wahrhaftig der von Weingartner durch drei Jahre angekündigte
Pelleas. Und das war Gregor, und es war schön, mit einem Werk
zu beginnen, das keine äußeren Ehren bringen konnte und einmal
doch gegeben werden mußte; und es so aufzuführen, daß alle zum
mindestens an der Aufführung ihre Freude haben durften. Das
Werk wurde, wiederum, ziemlich ungnädig empfangen, und die
Meinungen über Debussy formten sich zum Teil recht ergötzlich. Aber
es gab doch wieder Leben und Erörterung, eine Schranke des schwarz¬
gelben Ghettos fiel (rasch wurde, wie es da immer geschieht, irgendwo
eine andre zum Ersatz unsichtbar vorgeschoben), und selbst die träg¬
sten Hüter der Ideale, so nennt sich das ja, mußten zu einer neuen
Musik Stellung nehmen. Diese Musik erfüllt mir einen Traum:
sie überklingt viele Grenzen. Ich sage damit nicht, was nur Un¬
aufmerksame, wenn auch allgemein, sagen konnten: daß sie formlos
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