II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 45

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Der Schleiender-Pierrette
und anarchisch sei. Sie hat ihre andern Formen und andern Gesetze.
Aber sie vermeidet so vieles, was uns überreif in die Hände gelegt
worden ist. Sie wahrt eine Primitivität, die von der Einfachheit
herkommt, sie findet wieder zu den Wurzeln der Musik. Manchmal
rauscht es wie von einem jungen Weltgefühl in den melancholischen
Linien und Harmonien. Aber in den Linien noch mehr; die Harmo¬
#nien hat man nur besser beobachtet. Von den Linien, vom Zug, vom
Gleiten und Schweben dieser Musik ist eigentlich noch wenig die Rede
gewesen. Es wird manchen entgangen sein, was Pierre Laloy aus der
Zeit der Bildung Debussys erzählt: daß ihn irgendwo im bunten
Osten die Musik der Zigenner so recht ergriffen hat. Das ist auch
eine Musik, die den Wurzeln nahe ist, noch nahe ist, und der Geist,
der in ihr lebendiger glüht, verläßt keinen mehr, der ihn einmal
ersaßt hat. Ihr sanftes Feuer ist in die Klänge Debussys geflossen;
Urtöne vielleicht entzücken uns. Der mußte wahrlich ein Meister
sein, dem sie sich erschlossen, der sie bannen, fühlen, sich aneignen
konnte. Seit diesem Jahr 1902 (neunzehnhundertzwei, wiener Leser!),
da die Oper in Paris aufgeführt wurde, ist eine neue französische
Musik bekannt. Heute ist der Debussysme Schule, Mode und, wenn
man will, Gefahr. In Frankreich weiß man es, die einen freuen sich,
die andern toben, und die Blätter haben Stoff für Enqueten, die
natürlich kaum mehr erreichen als neue Aufmerksamkeit für den
Komponisten. Der ist als Kritiker durch seine Haltung und die
Schroffheit seiner Urteile über frühere, namentlich deutsche Meister,
genug beachtet worden. Aber schließlich waren im Grund doch alle
stolz auf ihn, weil man wieder einen hatte, der dem Ausland als
ein Wahrer französischer Kunst galt, weil jetzt wirklich wieder eine
eigene Bewegung in Frankreich anhub, die sogar die Verbindung mit
den Anfängen der französischen Musik mit Glück gefunden hatte. Was
sie aber drüben nicht wissen, da man es selbst bei uns außerhalb eines
kleinen Kreises kaum weiß, ist eine sonderbare Aehnlichkeit bei Debussy
und bei Schönberg. Zu einer Zeit, da man bei un von Debussy noch
keine Ahnung hatte, versuchte Schönberg sehr Verwandtes, nur daß
er rascher und weiter vorging, die Zusammenhänge der Harmonie in
eine Selbständigkeit der Stimmen auflöste und auf den schützenden
Mantel des romanisch geglätteten Klanges verzichtete, vielleicht auch,
weil so ganz andrer Herkunft, verzichten mußte. Als er noch lange
nicht soweit war, wie er heute gekommen ist, schrieb er eine symphonische
Dichtung „Pellas und Melisande', die einmal, 1905, in Wien auf¬
geführt wurde und ganz unverstanden blieb, während ihr im letzten
Herbst unter Fried in Berlin ein großer Erfolg zuteil wurde. Die
Partitur wird nächstens erscheinen. Man wird dann sehen, wie diese
Musik, die (soweit meine Erinnerung reicht) die Dichtung begleitet,
sogar im einzelnen oft das Gleiche und mit gleichen Mitteln will wie
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