II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 190

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sich, mit den übrigen Pantomimen verglichen, durch
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eine „vollkommen ernste, künstlerische Behandlung“.
Die größere Zahl der eingefügten Walzer und
Themen brauche man nicht für mehr als für Kulissen
zu halten. Herr Brandts=Buys hat leider recht.
Eine Pantomime von so vollkommen ernster,
künstlerischer Langweile habe ich noch niemals
gesehen. Es ist sicher, daß sowohl Schnitzler, als
Dohnanyi vorhatten, ihr Publikum zu schrecken und


zu ängstigen. Zwei fleißige Wiener Theaterdirektoren
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billigten diese Absicht schon vor Jahren und
rieten dem Dichter, ein Operettenlibretto zu verfassen.

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Schnitzler mühte sich redlich, aber der Plan blieb
unausgefülirt und statt der Operette kam eine Panto¬
Die neue Pautomime fiel mitten durch. Man
mime zum Vorschein, darin dem großen Künstler
gab den Darstellern zu verstehen, daß man ihre Mühe
Girardi das Los beschieden werden sollte, einen toten
achte, aber in den Beifall mischte sich immer stärkeres
Liebhaber zu spielen. Der Anschlag ging fehl, was
Zischen. Allerdings war 's wohl auch die Erwartung
sicherlich nicht zu bedauern ist, und die Pankomime,
Carusos, die ihren Einstuß übte. Herr Caruso ist
die nun ohne Ruder und Steuer in den Gewässern
noch immer das Ereignis des Theaters. Der Umstand,
der Theaterkanzleien segelte, wurde schließlich Herrn
daß der Gesang so sehr am Boden liegt, verleiht ihm
Dohnanyi zugewiesen. Der „Schleier der Beatrice“
einen außerordentlichen Seltenheitswert. Caruso ist
ging an ein Fräulein Pierrette über, aus Filivo wurde
gewiß eine Illusion, wie die anderen Illusionen auch.
Pierrot, und der Herzog wandelte sich in einen
Wißt Ihr, warum die Mona Lisa auf dem Bilde
dämonischen Arlechino. Schnitzlers fünfaktiges Schau¬
Leonaroo da Vincis
so
merkwürdig lächelt?
spiel war sehr schön. Die Personen des Stückes
Weil man ihr gesagt hat daß sie zwei Millionen
sprachen ein klangvolles, schweres und gedankentiefes
Francs wert ist. Aehnlich ist es mit Caruses Honoraren.
Quigärdeutsch, und ich bekenne gerne, daß es bei
Auch Caruso lächelt. Er hat das Lächeln der Gio¬
der Lektüre tiefen Eindruck auf mich gemacht hat.
conda... Die Teuöre werden teurer. Je älter sie
Fa geschah nun etwas, was niemals hätte
werden, desto teurer. Ich weiß nicht, ob es berechtigt
geschehen sollen. Der Dichter in seiner Güte und Frei¬
ist. Weiß nicht, ob die Goldader in Carusos Kehle
gebigkeit entäußerte sich der Sprache, nahm seinen
die Stimme noch immer so ergiebig liefert, wie
Figuren die Seele, änderte ein wenig an ihrem Schick¬
früher. Wenn ich mich recht erinnere, glänzte er vor
sel und verließ sich ganz auf die Kraft der Beine und
Jahren heller, war die Höhe siegreicher, dauerhafter,
die Beredsamkeit der Hände. Natürlich sinkt die
imposanter. Aber schöner ist diese Stimme doch ge¬
Tragik einer Braut, die vom Hochzeitsfest zu ihrem
worden, nobler, edler; sie hat den rauhen Hauch ver¬
Geliehten eilt, um sich mit ihm zu vergiften, zusammen,
loren, der manchmal in der Mittellage mitschlich.
da belde kein Wort dabei reden dürfen. Ohne Zweifel treten
Carnso geht in der Quantität zurück, die Qualität
numaufregende Vorgänge ein. Pierrot vergiftet sich wirk¬
wächst. Er hat nicht viel echte Verzweiflung als
lich während Pierrette, zu feig zum Sterben, ins hochzeit¬
Bajazzo. Im Augenblick, da er die Frau mit
liche Haus zurückkehrt. Der Bräutigam, springgistig
dem anderen überrascht hat, krempelt sich
über Pierrettes verspätetes Erscheinen, demoliert vor
Canio ruhig die Aermel auf, die ihn genieren.
Zorn die künftigen Schwiegereliern und die Instru¬
Es ist auch nicht anders möglich. Ein Künstler,
mente der Musiker, die zum Tanz aufspielen. Pierrette
in dessen Leben kein Widerstand tätig
ist, ein
langt in beklagenswerter Verfassung an, der Geist
Künstler, dem das Geld im Kasten von selbst
des Pierrot, der vor ihr aufsteigt, schreckt sie, und es
wächst, dem die Damen nachlaufen, der von der
bleibt nichts übrig, als den Bräutigam, der beständig
Impresa gehätschelt und gepflegt wird, wie eine
wissen will, wo Pierrette ihren Brautschleier vergessen
Wöchnerin, wo soll der die Verzweiflung hernehmen?
hat, ins Zimmer zu.führen, in welchem der tote Pierrot
Aber spielen kann er sie, und er ist wahrhaftig kein;
noch immer auf der Diele liegt. Hier nun stellt
schlechter Schauspieler. Und wo ihm der innere Ton
sich heraus, daß der Bräutigam Arlechino das Gegen¬
merklich fehlt, sorgt der äußere für Ersatz. Plötzlich —
seil eines Gentleman ist. Er setzt den toten Pierrot
so in der berühmten Klage des Bajazzo und in der Arie
wieder in den Sessel, zwingt Pierrette, ihm zuzutrinken
des zweiten Aktes — nimmt seine Stimme, aus sich
nd schickt sich an, noch weitere Ausschreitungen zu
selbst förmlich, die Farbe des echten Schmerzes an.
begehen, die aber Pierrette taktvoll abwehrt. Kalt
Sie klagt für ihn, ringt die Hände, die ihr Herr zu
lächelnd sperrt der Wüterich das arme Mädchen mit
ringen vergaß. Und der Jubel bricht los und alles
der Leiche ein, wodurch sie sich einen wahnsinnigen
steht unter dem Eindrucke eines großen Sängers. Ein
Tanz zuzieht, der mit ihrem Tode endet. Das
großer Säuger ist Caruso heute wie damals. Groß in
alles
geschieht ohne einen Schrei, ohne
der Kunst, seine schönen Mittel schön zu gebrauchen.
ein Wort, leider aber
unter Mitwirkung
Seine Kunst liegt darin, daß er nicht mehr will, als
eines großen Orchesters, das sich der aufsehen¬
ihm gegeben ist, daß er aus seinem Besitz den ange¬
erregenden Vorfälle in einer Taubstummengemeinde
messenen Nutzen schlägt. So ward er denn auch gestern
ausführlich bemächtigt. Es ist bekannt, daß die großen
enthusiastisch gefeiert. Frau Kiurina errang als
Komponisten zumeist schlecht Klavier' spielen. Leider
Nedda einen Sieg für sich. Der Wohlklang ihres bis
halten sich nun die meisten großen Klavierspieler für
auf den Grund schlackenreinen Soprans erfüllte
verpflichtet, chlecht zu komponieren. Herr Dohnauyi
die Szene. Auch Herr Schwarz als Tonio hatte
hätte, trotzdem es sich um gransige Geschehnisse
schöne Augenblicke. Neben dem fremden Meister be¬
handelt, ganz im Stillen einen liebenswürdigen Ton
standen die heimischen Lünstler mit Ehren. Das Haus
aufsetzen können. Schließlich
hatte er doch
erholte sich rasch vom Spuk des ersten Pierrot und
auch einen Walzer beizustellen und für eine
akklamierte den zweiten umso lebhafter.
Quadrille zu sorgen! Den tragischen Lärm erzeugt
Die ganze Wiener Gesellschaft war ausgerückti
er in konventisneller Weise, aber dort, wo höchste
Man grüßte sich und fand sich wieder. Ich zählte
Zeit gewesen wäre, den Zipfel eines Profils blicken
die Häupter und es fehlte keines.
zu lassen, verschwindet der Komponist und läßt kaum
den Hauch einer Persönlichkeit zurück. Eine Fülle von
Vom Hofe waren im Hause erschienen: Erz¬
stark pointierten Anklängen — sogar Wieniawski
fehlt unter den Zitaten nicht — beweist, daß Herr
herzog Franz Ferdinand und Gemahlin Herzogin
v. Dohnanyi die gesamte musikalische Produktion
Sofie Hohenberg, die Erzherzoginnen Marie
für würdig hält, Pantomimendieuste zu verrichten.
Valerie und Blanka mit zwei Töchtern des
Herr Hofkapellmeister Schalk nahm die Pantomime
Erzherzogs Friedrich, Erzherzog Franz
Salvator mit dem Herzog und der Herzogin von
für das, was sie sein wollte, für ein Musikdrama
Parma.
ohne Worte und ließ das prachtvolle Orchester los. In
Erzherzog Franz Ferdinand und Gemahlin ver¬
einer beklagenswerten Situation fand sich das lieb¬
ließen die Kaiserloge nach dem Ballett vor dem Auf¬
liche Fräulein Jamrich. Schrecklichen Aufgaben
treten Carnsos.
gegenübergestellt, fand sie fein heraus, daß die
Tänzerin nicht zu weit gehen durfte. Sie milderte die
Schrecken, so daß es nun war, als zöge der böse
500 K. für zwei Sitze.
Traum einer schönen Dame vorüber. Herr Czadill
Wie bisher bei allen Gastspielen Carnsos sind
und Herr Godlewski pflichteten ihr darin bei und
die Preise für die Plätze in der Hofoper durch die
der Kunst des Herrn v. Wymetal gelang es. das
Agiotage zu außerordentlicher Höhe hinaufgeschraubt
Gruseln auf Regieweaen in sanfte Melancholie zu worden. Agenten, die in
der letzten Zeit die noch
verfügbaren Eintrittskarten von Privatpersonen
verwandeln.
Andrang bei den Kassen ein so starker war, daß ba
alle Karten vergriffen waren. Vor dem Hause hatt
ein großes Wache=Aufgebot Mühe, die „Orbnun
aufrecht zu erhalten und im Foyor durften#nsich uu
jene Personen aufhalten, die sich mit Eintrittskarte
ausweisen konnten. Gegen 7 Uhr begann die Auffahr
der Automobile und Wagen in endloser Reihe un
erst gegen ¾8 Uhr hatte der Rummel vor dem Opern
hause sein Ende erreicht.
Nach der Vorstellung wurde Caruso bei
„Bühnentürl“ von einer großen Schar von Ver
ehrern erwartet und es
wurden dem Künstle
stürmische Ovationen bereitet.