II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 215

box 28/1
23. Der Schleien der- Pierrette
ung des Romans „Tragödien der dem Widerspruch zwischen der unverhältnismäßigen treulose Weib geklammert hat. Gleich der erste Auftritt
Voß befindet sich auf Seite 19.
äußeren Geltung und verborgenen Menschlichkeiten
läßt die geistreiche, dabei frappierend, natürliche Auffassung
das Lächerliche hervor. Er schleicht dem Vergötterten Carusos erkennen. Die Seutimentalität, mit der unsere
hinter die Coulissen nach und freut sich jedes Ge¬
Darsteller gleich hier zu Beginn der stumpfen Menge ihr
illeton.
trätsches, zu dem Inpresario=Geschäftigkeit den Anstoß
Herz ausschütten, ist ganz ausgeschaltet. Carusos Canio

gibt. Und nun ereignet sich das Merkwürdige: der Be¬
steht da vor seinem Püblikum. Er gibt eine kleine
foperntheater.
Gratisvorstellung, gleichsam als Vorgeschmack des Amuse¬
lächelte erscheint und zwingt dem Hörer allen nötigen
„Der Schleier der Pierrette.“ Pantomime
ments, das es abends zu erwarten hat. Das fehlte noch,
Idealismus auf. Denn — wir haben es schon einmal
k. Musik von Ernst v. Dohnanyi.)
daß er diesen Tölpeln, denen er sich als „Künstler“
gesagt — dieser Star ist gar keiner, nur ein echter, mit
penstischen Konzerte des Grammo¬
— man sehe das breite, aus dem Bäurischen in den
den echtesten Mitteln wirkender Künstler.
häusliche Musikleben der Mechanik
hoch überlegen
Typus des Mimen spielende Gesicht
Caruso gab bereits in Wien Verdis trällernden Don
sieben die Caruso=Platte. Hier voll¬
fühlt, seine Angelegenheiten vertraute! Unbewußt unter
Juan von Mantua, erschien in der stilisierten Heldenpose des
Bei dieser begnadeten Stimme wird
selbstgefälligen Possen seine innere Unruhe entladend,
Rhadames und war der realistisch gefärbte Dachkammer¬
künstlerischen Bilde. Ihr konnte
spielt er auch hier nur Komödie, gleiten ihm auch hier
poct der „Bohème“. Hier namentlich enthüllte sich der
nhaben, unversehrt, unverzerrt be¬
Wirklichkeit und Schein ineinander. Ein Meisterstück in
singende Darsteller, der mehr ist als der glückliche Besitzer
Schönheit im Sarge, ohne Ein¬
der Feinheit unmerklicher Uebergänge, in derselben Fein¬
eines herrlichen Organs, mehr als der vornehme Meister
an ihrer Seele. Jedesmal aber regt
des bel canto: ein Künstler der tieferen, zu Geist und
heit, mit der auch der Sänger seine Register ineinander¬
1 dem singenden und darstellenden
Empfindung sprechenden Wirkungen. Auf der Linie des
leitet. ... Nicht minder meisterlich lenkt Caruso die Dinge
rStimme gehört. Caruso ist heute
Rodolfo bewegt sich auch Carusos Canio. Er singt und
auf der Hanswurstbühne. Canio zeigt die Symptome von
iger, vielleicht der einzige, auf den
spielt Leoncavallos sentimentalem Hanswurst die Schminke
Dämmerungszuständen, die die Folge eines schweren
Gefühlen freuen. In diesem Be¬
vom Gesicht, holt wiklich den Menschen hervor, der, wie
Affektes sind. Ein krampfhaftes, in seiner Hilflosigkeit unend¬
Ueberschwang frei weiß, soll die
des Dichterkomponisten Melodramatik so beflissen versichert,
lich ergreifendes Lächeln kennzeichnet sein jeweilig Erwachen.
omens liegen, wie es im Bereiche
auch im Bajazzo steckt. Das bloß „Veristische“ wird zum
Die Glieder sind wie aus den Gelenken geraten, die Arme
llezeit zu den Seltenheiten gehört
Lebenswahren erhöht; keine dick tropfenden Theater¬
verlieren sich in den weiten, lang herabbaumelnden
Vereinzelt dasteht. Interessant die
tränen, ein naives Sichausweinen; kein pathetisches
Bajazzoärmeln, und wenn er die Arme automatisch zu
f in ihrem Verhalten zu diesem
Schwingen des Theaterdolches, das Sichselbstverlieren der
einer Spielgeste hebt, ergeben sich groteske Hampelmann¬
Kit der romantischen Schwärmerei,
Verzweiflung. Carusos Tenor gehört nicht zu den
posen. Caruso hat die sparsame und darum doppelt be¬
ernen solcher Art entzündete, ist es
stählernen, und es läßt sich nicht ermessen, wie weit die
deutsame Gebärde, die beherrschte Rhythmik, den erfinderischen
Mode von vorgestern. Der Star ist
Strapazen der Weltberühmtheit seine Widerstandsfähigkeit
Einfall, nicht zuletzt das Maß und die Einfachheit des
nußobjekt, von dem mit einer
gefährden. Auch mag er mit seinem süßen, überwiegend
großen Schauspielers. Und wie schmerzlich=edel singt er
ig Gebrauch gemacht wird. Man
lyrischen, seelenvollen Timbre zuweilen — wie an diesem
sich jeglicher schärferen
die Es-dur-Kantilene als
nd, die Faust in den Taschen, die
letzten Abend — selber einigen Widerstand leisten gegen
Charakteristik enthaltenden Erguß eines letzten, reinen
und sucht die Genugtuungen der
die ihm zugemuteten dramatischen Ueberspannungen.
Augenblickes der Wehmut! Freilich, er hat in dieser Rolle
Angstrieb meldet sich und setzt sich
Wie überwältigend klingt gleichwohl, aus dieser
an Gesang sonst nicht viel mehr zu bieten als einige
jeb kommt im Gerücht zum Aus¬
Kehle und aus dieser Seele strömend, die bis zum Ueber¬
leidenschaftliche Ausrufe. Jenem jedoch, der nicht die Zahl
im Traume. Diese Stimme, die
druß abgeschluchzte Bajazzo=Arie, halb rührender Klage¬
der Noten nachrechnet, hat seine edle Kunst überreich ge¬
ja doch nur ein gebrechlich Ding,
sang, halb leidenschaftlicher Schmerzensausbruch! Unend¬
spendet.
so heißt es in bunter Folge:
liche Bitterkeit wird auf das Wort „Pagliaccio“ gehäuft,
stimme, Caruso muß sich einer
Auch schon vor dem „Bajazzo“ hatte Colombine
Caruso wird nicht lange mehr ein Aufschrei aus einem elenden Komidiantendasein
der Ausgleichungstrieb holt aus heraus, in dem sich der arme Teufel an das geliebte zu sterben. Schnitzlers „Schleier der Pierrette“ ist eine
1


7