II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 231

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„SOSERVEN
zrr. beh. konz. Unternehmen für Zeitunge¬
Ausschnitte und Bibliographie.
Wien, I., Conoordiaplats 4.
Vertretungen
n Ein, Brüssel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Ge Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
Neork, Faris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petere¬
burg, Toronto.
Quellenangabe ohne Gewähr.)
Tagesbote aus Mähren und Schlesie,
schnitt aus:
Brünn.
30 9. 1911
Abendblatt,
Die Hofoper hat das Ereignis eines mehrmaliger
Auftretens Carusos hinter sich und damit drei ausbet¬
dert sich! überall wird zurzeit ein Nachlassen des Inter¬
esses fürs Theater festgestellt, überall klagen die Bühnen¬
leiter über schwachen Besuch und schlechte Einnahmen. Die
Ansprüche der ausübenden Künstler jedoch sind in stetem
Wachstum begriffen und werden in ihrer ganzen Höhe
cavallos „Pagliacci“! Eine Rolle im kleinen Umfang von
wenigen Arien in einer Oper, die etwa fünfviertel Stunden
Spieldauer hat! Und dafür zahlen die Theaterbesucher
40.000 K! über 100.000 K geben Menschen an drei Abenden
für einen angenehmen Ohrenschmaus in derselben Stadt
Wien aus, in der Tausende nicht wissen, wie sie sich am
nächsten Tag ihren Bissen Brot, ihre armselige Schlaf¬
stelle erschwingen werden! Das ist ein greller Mißklang,
der den Genuß an Carusos unverändert wohllautender,
ausgeglichener, edler Stimme, an seiner großen Gesang¬
kunst und an seiner auch nicht unbedeutenden Darstellungs¬
kunst erheblich trübt. Carusos erstem Gastspiel als Canio
— der Herzog von Mantua und Don José folgten —
ging als Novität Ernst v. Dohnanyis Pantomime „Der
Schleier der Pierrette“ voran, deren Text kein
Beringerer als Artur Schnitzler geschrieben hat. (Parti¬
ur, Klavierauszug und Textblich sind — ausnahmsweise —
in Österreich, bei Ludwig Doblinger=Bernhard Herzmansky
erschienen.) Das Buch ist mit den Anderungen, die die
Umwandlung in eine Pantomime erforderte, dem Re¬
naissance=Drama „Der Schleier der Beatrice“
(bei S. Fischer, 1901) entnommen, das seinerzeit die Ur¬
sache eines heftigen Zwiespalts zwischen Schnitzler und
Schlenther war und das vor wenigen Wochen von Hage¬
mann in Hamburg zu neuem Leben erweckt wurde. Aus
dem Dichter Filippo Loschi ist Pierrot geworden, aus seiner
Geliebten Beatrice ward Pierrette, Lionardo Bentivoglio,
der stolze Herzog von Bologna und betrogene Gatte Bea¬
tricens, wurde ein schlichtbürgerlicher Arlechino. Sogar
die reichen Bologneser Tibaldi und Nigeti mit ihren sla¬
rentinischen Courtisanen Ijabella und Lucrezia sind in
eerecen
an den Mund. Pierrot trinkt aus und schlägt Pierreite,
da er sie zaudern sieht, den zweiten Becher aus der Hand.
Er stirbt; Pierrette, grauengeschüttelt, entflieht. Das Fest
im Herzogspalast (vierter Akt) oird zur Hochzeitsfeier im
Bürgerhaus von Pierrettens Eltern (zweites Bild). Die
Braut wird zur Quadrille vermißt. Arlechino, der Bräuti¬
gam, rast. Endlich kommt sie, verstört, mit schwachen Aus¬
reden und falschen Schmeicheleien den Gatten beruhigend.
Da erscheint — ein richtiges Pantomimenmotiv, das im
Drama fehlt —, nur für Pierrette sichtbar, dreimal der
tote Pierrot; das drittemal hält er den Brautschleier auf
dem Arm, den Schleier, den Pierrette bei ihrer eiligen
Flucht aus des Toten Haus vergessen und nach dem Arle¬
chino soeben argwöhnisch gefragt hat. Pierrette eilt dem
Geist Pierrots mit dem Schleier nach; Arlechino folgt.
Wie der letzte Akt des Dramas, so spielt das letzte Bild
der Pantomime wieder im Haus des toten Liebhabers. Der
Gatte findet erst den Schleier
„von so wunderbarer Schönheit,
Wie keinen, den ein Mädchen dieses Lands
Und niemals eine Herzogin getragen.
So kostbar, daß der Fürst von Pergamum
Ihn und nur ihn allein als Hochzeitsgabe
Der Fürstin schenkte, die er sich erwählt",
und dann den nicht sofort sichtbaren, hinter einer Staffelei
liegenden Leichnam. Nun trennen sich die Wege von Drama
und Pantomime wieder. Dort verzeiht der Herzog, aber ein
ehrbar-entrüsteter Bruder erdolcht die Schwester. Arlechino
ist nicht so nachsichtig, wie Herzog Lionardo; er zwingt
Pierrette zuerst zu einem grausigen Dreier=Souper mit
dem Toten, den er in einen Sessel setzt, will dann ange¬
sichts des verstorbenen Nebenbuhlers Hochzeit feiern und
sperrt endlich, als Pierrette seinem Andrängen widerstrebt,
davoneilend die Widerspenstige bei dem Selbstmörder ein.
Darauf wird Pierrette wahnsinnig und sinkt nach einem
wirren, wilden Tanz tot zu Boden. Die Musik, mit der
Dohnanyi, der Meisterpianist und Vollblutmusiker, dieses
Nachtstück umsponnen hat, läßt sich nicht ohne weiteres
mit dem Schlagwort Kapellmeister= und Virtuosenmusik ab¬
tun. Bei aller offenkundigen Anlehnung an Wagner, beson¬
ders in einem oft wiederkehrenden Leitmotive, und andere
Vorläufer hat Dohnanyi in gewählter, gepflegter Sprache
auch viel Eigenes zu sagen. Der gefällige D=Dur=Walzer,
den das Freundschaftsquartett im ersten Bild tanzt, die
glühende Liebesszene in E=Dur, der barocke H=Moll=Marsch,
nach dessen Takt Pierrot und Pierrette ihr Souper vorbe¬
reiten, das innig=süße G=Dur=Menuett, später die gespen¬
stische Schnellpolka der Hochzeitsmusikanten, denen Arle¬
chino im Zorn die Instrumente ruiniert hat, zuletzt Pier¬
rettens Wahnsinnswalzer in F=Moll sind persönliche Musik,
die einer zweifellosen, wenn auch noch nicht ganz souveränen
Gestaltungskraft entsprossen sind. Das von Schalk sehr
gut vorbereiteie, aparte Werk wurde im Musikalischen und
Szenischen in der Hofoper ungemein stilvoll herausgebracht
und Fräulein Jamrich spielte die wechselnden Gefühle
von Beatrice=Pierrette mit ausdrucksvoller Mimik. Gleich¬
wohl ist die Pantomime nur verständlich, wenn man vor¬
her den Text gelesen hat. Da sich nun erfahrungsgemäß
die Mehrzahl der Theaterbesucher keine Textbücher kauft,
so gäbe es nur ein Mittel, eine wegen des Nichtverstehens
gereizte Stimmung des Publikums zu vermeiden: es müßte
jedem Besucher ein Zettel mit einer kurzen Inhaltsangabe
der Pantomime umsonst eingehändigt werden. Zu dem
Arger über die Unerklärlichkeit der Bühnenvorgänge ge¬
sellte sich als zweiter störender Umstand die Tatsache, daß
der größte Teil der Zuhörer nur Curusos wegen gekommen
war und die vorhergehende Premiere bloß als unliebsame
Verzögerung empfand. Noch dazu war — was bei den
hohen Preisen übrigens überraschen mußte — auf den
Galerien sehr viel Musikpöbel, der, wo er der Pantomimen¬
handlung nicht folgen konnte, halblaut ironische Bemer¬
kungen äußerte und am Schluß in den freundlichen Berll
hineinpfiff und =zischte. Wenn sich „Der Schleier der Pier¬
rette“ nicht an den „Nippes“ fängt und festhält, so wird;
er vomrauhen Herbstwind bald weggeblasen werden.