II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 239

23. Der-Schleiender-Pierreste
Musikalisches Tagebuch.
Donnerstag.
Gestern Carnso. Wie noch jedesmal, wollte ich auch diesmal nicht an
ihn g'auben. Ter Lärm ist mir zu groß, das Beifallsgetöse, das der Tele¬
graph aus allen Hemisphären herbeiträgt, zu verdächtig. Ein großer
Künstler hätte das nicht notwendig, so angepriesen zu werden wie eine
neue Seife oder ein Rasterapparat oder irgend ein Schönheitsmittel.
Aber das ist nun wohl amerikanisch, und so wenig uns geschäfts
untüchtigen Europäern dies Treiben zusagt, so wenig würde man
drüben verstehen, was wir eigentlich dagegen einzuwenden haben. In
ihrem kaufmännischen Sinn sind die Amerikaner übrigens gar nicht
kleinlich. Sie begreifen ganz gut, daß auch ein Caruso sich teuer be¬
zahlen läßt. Bei uns in Wien wird ihm vorgerechnet, was jeder Ton
aus seiner Kehle kostet. Indes wer auf Sensationen ausgehl, soll sie
auch bezahlen ... Angekündigte Sensationen machen mich mißtranisch:
bleibt doch die Erfüllung regelmäßig hinter der Erwartung zurück.
Wie aber, wenn ganz anderes geboten wird, als man erwartete? Wenn
man auszieht, um einen Reklame=Tenor zu suchen und einen Künstler
findet? So ging es mir jedesmal mit Caruso, so auch gestern. Der
Bajazzo. Welche Gelegenheit zum Loslegen, zum Ausstellen ein
paar starker Töne! Die haben übrigens in mehr oder minder
richtiger Höhe auch pensionierte Tenöre aufzuweisen. Eben darum
war nichts dergleichen bei Caruso zu finden. & Die Stimme ist
herrlich. Weder Brutalität noch Zimperlichkeit, sondern Männlichkeit.
Die Gesangskunst bedeutend, die Darstellung hervorragend, allein
das Entscheidende sind nicht diese Elemente für sich, sondern ihre
Verschmelzung zu einer höheren Einheit. Die Rolle wird durchleht
mit jedem Atemzug, mit jeder Geste. Die Wirkung ist unbeschreiblich.
Freilich wer mit förmlich aufgekrempelten Hemdärmeln dasaß, um los
zuklatschen, wenn genügend starke und hohe Töne hervorbrachen,
konnte enttäuscht werden, weil er sich getäuscht sah. Wer das Schlimme
will, kann mit dem Guten sich nicht befreunden. Nur wer das
Schlimme befürchtet, wird vom Besten überwältigt. Zum Schlusse sah ich
niemanden, der sich der Wirkung dieser Künstlerschaft entzogen hätte.
Ein Publikum, das nur wegen Carnso in die Hofoper kommt, soll
man nicht durch eine vorausgehende Novität auf die Folter spannen.
Die wenigsten hatten Geduld, nur ordentlich hinzuhören und hinzu¬


1
WN
bos 28
191
Matne Vn
sehen, als „Der Schleier der Pierrette“ an ihnen vorüberzog. Die Autoren
Arthur Schnitzlerund Ernst von. Dohnanyi hätten scheinbar Grund
zur Kläge. Viel¬
leicht aber ist diese
unglückselige Ver¬
koppelung mit dem
Caruso=Gastspiel
eine gute Ausrede
für den unbezwei¬
felbaren Durchfall.
Es gibt verschie¬
dene Arten, wie
ein Stück durch¬
sausen kann, laut
oder leise. Diesmal
war das Publikum
nicht einmal un¬

höflich. Es war nur

froh, daß die Ge¬
schichte endlich aus
war. Die Hand¬
lung ist grausig,
allein nicht unwirt¬
sam. Sie könnte
besser wirken,
würde sie von
der Musik an den
entscheidenden
Punkten nicht im
Stich gelassen.
Mich dünkt Klavier
noch immer die
beste Begleitung zu
einer Pantomime.
Unwillkürlich ver¬
bindet man mit 1#
einer Pantomime
Marie Jamrich (k k. Sofoper). — Photograpkische Aufnahme
die Vorstellung
von Viktor Angerer, Wien.
2
*