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box 28/1
Der-Schleiender-Bierrette
nelagehule
TEM 1913
vom:
Let
Berliner Musikbrief.
Von SIEGMUND PISLING.
Berlin, im April 1913.
KINN
Ineiner neuen einaktigen Oper von Ernst von Dohnänyi, die im Deut¬
schen Opernhause zu Charlottenburg aufgeführt wurde, geht es ungefähr wie
folgt zu: gTante Simonas — dies der Titel des Werkes — wünscht ihr Nicht¬
chen Beatrice vor den Enttäuschungen der Liebe zu bewahren, die sie, die Alternde,
hatte einst selbst durchkosten müssen. Da weißs sich Graf Ghino in der Maske eines
taubstummen Gärtners dem argwöhnisch behüteten Mädchen zu nähern. Als er, das
Inkognito lüftend, Beatricen seine Liebe gesteht, wird das Pärchen von Tante
Simona überrascht. Mittlerweile läßt sich aber die männerfeindliche Simona in
zärtlichem téte-à-téte mit ihrem alten Anbeter Grafen Florio ertappen, was einer
Preisgabe ihrer Grundsätze gleichkommt. Sie muß wohl oder übel verzeihen
und der Vorhang fällt über zwei Brautpaaren.
Leider fällt er nicht auch über einer guten Spieloper. Viktor Heindl hat
fadenscheinige Singspielsituationen aneinandergereiht und die im übrigen trefflich
gearbeitete und hübsch orchestrierte Musik Dohnänyis erfreut sich eines fatalen
Gedächtnisses für das, was adie anderns zu Zeiten, die gewesen sind, bei ähnlichen
Anlässen vorzubringen pflegten. Es gibt da eine schreckliche kleine gErinnerungs¬
melodies in Form eines Schnellpolkafragments ... Aber man muß ja nicht alles er¬
zählen. Umsoweniger, als dieser bestrittene Dohnánvi von einem äußerlich höchst
erfolgreichen abgelöst wurde: Der Schleier der Pierrettes, Pantomime nach Arthur
Schnitzler, hat sehr gefallen.
Wenn man Musiker ist und Schnitzlerfreund obendrein, so möchte man
gern glauben, daß es die ausgezeichnete Pierrette der Frau Galafrès war,
die Glasstückchen gleich Brillanten funkeln machte, weil man sonst beinahe von
einer Wirkung ohne Ursache sprechen müßte. Pierrette stiehlt sich, bräutlich ge¬
schmückt, von ihrem ungeliebten Bräutigam Arlechino zu Pierrot fort. Dieser nimmt
die Abmachung, gemeinsam zu sterben, genau, indessen die plötzlich feige gewordene
Pierrette vor seiner Leiche vom Vertrage zurücktritt. Begreiflich, daß mittlerweile
Arlechino unter den versammelten Hochzeitsgästen Tobsuchtsanfälle bekommt. End¬
lich kehrt die verstörte Pierrette zurück. Nach etlichen gruseligen Erscheinungen
des seligen Pierrot ebrüllts Arlechino (mit Armen und Beinen natürlich): &Wo ist
dein Schleier, Pierrette? Beide ab nach Pierrots Wohnung, wo sich der zerzauste
Schleier der Pierrette denn auch wirklich vorfindet. Der sadistische Arlechino arrangiert
nun mit der armen Pierrette ein fürchterliches Schäferstündchen, wobei der Tote in
der Divanecke lehnen muß. Ist das nicht zum wahnsinnig werden? Jawohl, und
Pierrette wird es auch. Eine getanzte Wahnsinnsarie beschließt die Pantomime.
Man traut seinen Ohren, pardon Augen nicht, daß der Feinsten einer, daß Arthur
Schnitzler jene knallige scène à faire ersonnen
Und Dohnányi? Er gersinnts nur wenig — z. B.wäre ein stimmungsvolles Alla
marcia im ersten Bilde auszunehmen — ebesinnts sich aber umso nachdrück¬
licher auf Wagner, den er gleich in den Anfangstakten wörtlich zitiert, auf Richard
Strauß, der sittsam glattgekämmt erscheint, besinnt sich wegen des Altwiener
Milieus auf Johann Strauß. Satztechnik? Wieder famos. Instrumentation: Wieder
meisterlich. Dir aber, lieber lgor Stravinski, der du die Musik zu ePetruschkas ge¬
schrieben, bitte ich vieles ab. Auch dir fällt wenig ein, aber du hast doch wenigstens
den Mut zur zeitgemäßen Dissonanz.
Mit der Erstaufführung von Puccinis =Mädchen aus dem goldnen
Westens hatte das Deutsche Opernhaus ungefähr 14 Tage vor den Dohnänyischen
Premièren seinen ggroßen Abends. Puccini war anwesend, doch erschien an seiner
Stelle der treffliche junge Waghalter am Dirigentenpult. Man darf von einem
großen äußeren Erfolge sprechen, einem Erfolge, der, rund herausgesagt, in keinem
Verhältnis zum innern Wert des Werkes steht. Das amerikanische Verdikt, das
im Jänner 1911 im New-Vorker Metropolitan-Opernhause nach der Uraufführung
gefällt wurde, besteht zu Recht. cLa fanciulla del Weste kann den Vergleich mit
gLa Bohèmes, &Toscas, sMadame Butterflys und, meines Erachtens, selbst mit
*Manon Lescauts nicht aushalten. Die teils blutrünstige, teils tränenselige Handlung
darf als bekannt vorausgesetzt werden. Sie würde jedem elndianerbüchels zum
Schmuck gereichen. Puccinis Musik ist invita Minerva erfunden. Man hat das
Gefühl: Zuccini liebte den Stoff nicht, den er da in Musik setzte. Und das —
kann man ihm schließlich auch nachfühlen
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Der-Schleiender-Bierrette
nelagehule
TEM 1913
vom:
Let
Berliner Musikbrief.
Von SIEGMUND PISLING.
Berlin, im April 1913.
KINN
Ineiner neuen einaktigen Oper von Ernst von Dohnänyi, die im Deut¬
schen Opernhause zu Charlottenburg aufgeführt wurde, geht es ungefähr wie
folgt zu: gTante Simonas — dies der Titel des Werkes — wünscht ihr Nicht¬
chen Beatrice vor den Enttäuschungen der Liebe zu bewahren, die sie, die Alternde,
hatte einst selbst durchkosten müssen. Da weißs sich Graf Ghino in der Maske eines
taubstummen Gärtners dem argwöhnisch behüteten Mädchen zu nähern. Als er, das
Inkognito lüftend, Beatricen seine Liebe gesteht, wird das Pärchen von Tante
Simona überrascht. Mittlerweile läßt sich aber die männerfeindliche Simona in
zärtlichem téte-à-téte mit ihrem alten Anbeter Grafen Florio ertappen, was einer
Preisgabe ihrer Grundsätze gleichkommt. Sie muß wohl oder übel verzeihen
und der Vorhang fällt über zwei Brautpaaren.
Leider fällt er nicht auch über einer guten Spieloper. Viktor Heindl hat
fadenscheinige Singspielsituationen aneinandergereiht und die im übrigen trefflich
gearbeitete und hübsch orchestrierte Musik Dohnänyis erfreut sich eines fatalen
Gedächtnisses für das, was adie anderns zu Zeiten, die gewesen sind, bei ähnlichen
Anlässen vorzubringen pflegten. Es gibt da eine schreckliche kleine gErinnerungs¬
melodies in Form eines Schnellpolkafragments ... Aber man muß ja nicht alles er¬
zählen. Umsoweniger, als dieser bestrittene Dohnánvi von einem äußerlich höchst
erfolgreichen abgelöst wurde: Der Schleier der Pierrettes, Pantomime nach Arthur
Schnitzler, hat sehr gefallen.
Wenn man Musiker ist und Schnitzlerfreund obendrein, so möchte man
gern glauben, daß es die ausgezeichnete Pierrette der Frau Galafrès war,
die Glasstückchen gleich Brillanten funkeln machte, weil man sonst beinahe von
einer Wirkung ohne Ursache sprechen müßte. Pierrette stiehlt sich, bräutlich ge¬
schmückt, von ihrem ungeliebten Bräutigam Arlechino zu Pierrot fort. Dieser nimmt
die Abmachung, gemeinsam zu sterben, genau, indessen die plötzlich feige gewordene
Pierrette vor seiner Leiche vom Vertrage zurücktritt. Begreiflich, daß mittlerweile
Arlechino unter den versammelten Hochzeitsgästen Tobsuchtsanfälle bekommt. End¬
lich kehrt die verstörte Pierrette zurück. Nach etlichen gruseligen Erscheinungen
des seligen Pierrot ebrüllts Arlechino (mit Armen und Beinen natürlich): &Wo ist
dein Schleier, Pierrette? Beide ab nach Pierrots Wohnung, wo sich der zerzauste
Schleier der Pierrette denn auch wirklich vorfindet. Der sadistische Arlechino arrangiert
nun mit der armen Pierrette ein fürchterliches Schäferstündchen, wobei der Tote in
der Divanecke lehnen muß. Ist das nicht zum wahnsinnig werden? Jawohl, und
Pierrette wird es auch. Eine getanzte Wahnsinnsarie beschließt die Pantomime.
Man traut seinen Ohren, pardon Augen nicht, daß der Feinsten einer, daß Arthur
Schnitzler jene knallige scène à faire ersonnen
Und Dohnányi? Er gersinnts nur wenig — z. B.wäre ein stimmungsvolles Alla
marcia im ersten Bilde auszunehmen — ebesinnts sich aber umso nachdrück¬
licher auf Wagner, den er gleich in den Anfangstakten wörtlich zitiert, auf Richard
Strauß, der sittsam glattgekämmt erscheint, besinnt sich wegen des Altwiener
Milieus auf Johann Strauß. Satztechnik? Wieder famos. Instrumentation: Wieder
meisterlich. Dir aber, lieber lgor Stravinski, der du die Musik zu ePetruschkas ge¬
schrieben, bitte ich vieles ab. Auch dir fällt wenig ein, aber du hast doch wenigstens
den Mut zur zeitgemäßen Dissonanz.
Mit der Erstaufführung von Puccinis =Mädchen aus dem goldnen
Westens hatte das Deutsche Opernhaus ungefähr 14 Tage vor den Dohnänyischen
Premièren seinen ggroßen Abends. Puccini war anwesend, doch erschien an seiner
Stelle der treffliche junge Waghalter am Dirigentenpult. Man darf von einem
großen äußeren Erfolge sprechen, einem Erfolge, der, rund herausgesagt, in keinem
Verhältnis zum innern Wert des Werkes steht. Das amerikanische Verdikt, das
im Jänner 1911 im New-Vorker Metropolitan-Opernhause nach der Uraufführung
gefällt wurde, besteht zu Recht. cLa fanciulla del Weste kann den Vergleich mit
gLa Bohèmes, &Toscas, sMadame Butterflys und, meines Erachtens, selbst mit
*Manon Lescauts nicht aushalten. Die teils blutrünstige, teils tränenselige Handlung
darf als bekannt vorausgesetzt werden. Sie würde jedem elndianerbüchels zum
Schmuck gereichen. Puccinis Musik ist invita Minerva erfunden. Man hat das
Gefühl: Zuccini liebte den Stoff nicht, den er da in Musik setzte. Und das —
kann man ihm schließlich auch nachfühlen