II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 322

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BERLIN SO 16, RUNGESTRASSE 22-24
Deutsche Allgemeine Jeitung
Ausschnitte aus der Morgen-
Abend-Ausgabe vom:
ZOSEP1922
Schnitzler
als russisches Ballett.
Kammerspiele: Gastspiel Kiki¬
mora.
Wieder eine neue russische Truppe. Bald
werden wir mehr russische Theater haben als
deutsche. Dieses Mal ist es noch nicht Stanis¬
lawsky, sondern es sind Mitglieder der Mos¬
kauer Kammerspiele und des Moskauer
früheren kaiserlichen Balletts. Also jene west¬
lich orientierte, zugleich barbarisch grobe, als
seelenlos überfeinerte russische Kunst, die einen
mehr an Feste der Kaiserin Eugenie in der
Pariser Oper erinnert als an Rußland.
Sie spielten Schnitzler als Ballett. Man
darf bezweifeln, ob Schnitzler damit zufrieden
gewesen wäre. Seit der „Reigen“=Affäre hat
er ja allerdings manches künstlerische Kom¬
promiß geschlossen. Es bedeutet für ihn hohes
Lob, daß trotz der Seelenlosigkeit der Auf¬
führung noch viel von seiner intimen Seelen¬
kunst sichtbar blieb.
Man feiert Pierrettens Hochzeit mit
Arlechino. Pierrette hat das Fest verlassen und
ist zu Pierrot geeilt, um mit ihm zu sterben.
Sie nehmen Gift. Pierrot sinkt tot zu Boden,
ihr aber versagt die Kraft; sie verläßt von
Grauen erfaßt das Zimmer, ihr Schleier bleibt
bei dem Toten liegen. Inzwischen hat man im
Hochzeitshause ihr Verschwinden bemerkt. Als
sie zurückkehrt, findet sie alle in größter Er¬
regung. Der Bräutigam sieht sofort, daß sie
keinen Schleier mehr trägt. Er stellt sie zur
Rede, sie weicht vor ihm zurück, weist mit
stummer Gebärde in die Ferne, er folgt ihr ..
Wieder betritt sie das Zimmer des Geliebten,
doch jetzt von ihrem Gatten gefolgt. Der Tote
liegt regungslos am Boden. Arlechino erkennt
die ihm angetane Schmach und beschließt sich zu
rächen. Er schließt sie mit dem Toten ein. Der
Tod ist mitleidiger als der Gatte; er hüllt ihren
Sinn in Wahnsinn und läßt sie, nachdem sie
vor der Leiche einen irren, immer toller
werdenden, schließlich in Zweivierteltakt zu Ende
rasenden Walzer getanzt hat, neben dem Ge¬
liebien zusammenbrechen.
Die Musik von Ernst von Dohnanyi
zeigt eine schmiegsame Anpassung an die
Wesensart Schnitzlers. Sie ist wienerisch süß
und sentimental, wo der Dichter der „Liebelei“
zu spüren ist, sie hat einen schmerzlich verwehten
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Klang, sobald die für Schnitzler so charakte¬
ristische Lebensmüdigkeit in Erscheinung tritt;
ihre Heiterkeit ist immer von Wehmut gedämpft,
sie beherrscht alle Mittel der Virtuosität,
immer sehr „gut gemacht“, aber doch nur an
wenigen Stellen wirklich gefühlt
Von dieser gewiß nicht originellen, aber
doch mit seiner Sensualität dem Dichter folgen¬
den Musik wurde gestern freilich wenig lebendig.
Sie wurde herzlich gleichgültig herunter¬
gespielt. Man erinnerte sich schmerzlich einer
von Leidenschaft und Temperament getragenen
Aufführung, die Ernst v. Schuch im Dresdner
Opernhause leitete: auch er machte aus der
Pantomime keineswegs eine Oper, auch er ließ
das Tänzerische in den Vordergrund treten,
aber er hatte Wiener Blut, er hatte die große
Tradition der Wiener Operette, er hatte den
echten Sinn des Künstlers für das Wesentliche.
Wehmütig dachte man auch an Irma
Tervani, die unter Schuch eine so bezaubernde
und seelenvolle Geliebte gab. Sofia Fe¬
dorowa war weder seelenvoll noch Ge
liebte; sie war auch weder Schauspielerin noch
Tänzerin; sie war eine Balletteuse, die zufällig
in eine tragische Situation gekommen ist und
sich in dieser nicht zu benehmen weiß. Aucht
Sam. Vermeil als Pierrot fiel aus einer
Pose in die andere, vermochte aber nicht für
eine Sekunve ein wirkliches Gefühl vorzu¬
täuschen, geschweige denn zu übermitteln.
A. Tschabrow als Arlechino hatte als ein¬
ziger schauspielerischer Leistungen aufzuweisen.
Wie er gleich einem zornigen Stier, bebend
von Energie, im Festsaale umherschritt, das
war zum mindesten „gut gemacht“ Die Regie
war die eines guten Tanzmeisters: sie versagte
an allen Stellen, wo das Gefühl hätte sprechen
müssen, aber sie war virtuos und tanzte über
die schwierigsten Treppenstufen, wo es sich um
Ballettformationen handelte.
Nein, diese Russen haben uns nichts zu
sagen. Diejenigen Russen aber, die uns etwas
zu sagen hätten, schweigen.
Otto Gysae.