23. Der Schleiender-Bierrette
T ATTRrR Ter Auueemer gon
BERLIN SO 16. RUNGESTRASSE 22-24
Berliner Lokal-Anzeiger
Zentralorgan für die Reichshauptstadt
Ausschalt aus der Rummer vom.
Kn
Kunft und Wissenschaft.
R. R. Kammerspiele des Deutschen The¬
nters. „Der Schleier des Pierette“
Arthur) Schnitzlers nicht sehr beseelte
Pantorhin vran Jahren auch in Berlin
gegeben, wurde von einer russischen Gesellschaft
„Kikimora“ wieder ans Licht der Rampe geholt.
Ernst von Dohnanji hatte eine Musik dazu
geschrieben, die das vage, zerbrechliche Leben dieser
Dichtung, in der Schnitzler sich selbst bestiehlt,
vollends zum Erlöschen brachte. Pierrot und
Pierette, Harlekins. Die Gestalten der Tragödie
„Der Schleier der Beatrice" sind zu Puppen ge¬
worden. Pierette vergißt den Schleier, den Hoch¬
zeitsschleier bei Pierrot. Der melancholische Reiz,
der — es ist immerhin Schnitzler, der die Pan¬
tomime erdachte — aus einigen Stellen aufblühen
könnte, wurde von den Russen völlig verkitscht.
G·
Richt das Tanzerische, nicht das Mimische erreichte
nur den üblichen Durchschnitt. Ein paar leidlich
hübsche Tanzbilder im zweiten Akt litten auch an
der Enge des Aufbaus. Man konnte den Beifall
durchaus den russischen Landsleuten des jungen
Unternehmens überlassen.
—
7
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO. 16, RUNGESTR 22-24
Zetung: Berliner Volkszeitung
Morgen-Husgabe
Adresse, Berlin
2 4 SE P. 1997
Datum:
üssische Dankomime in Berlin.
„Der Schleier der Pierette.“
In den Kammerspielen gab man Arthur Schnitzler
Pantomime „Der Schleier der Pierrette“ Ein allmödtsche
echtes Tanzspiel von der Liebe Pierrots. Mit den russischen Beinen
des berühmten Theaters Kikimora getanzt. Man hatte erwartet
Durchbruch zu einer neuen Form, Temperament, revolutionäre Auf
wühlung der Seele vor mimischer Offenbarung. Moskauer Staats¬
ballett — man hatte sich gefreut. Und sah: eine tränenselige Idylle
vom Tod, ein hübsches Menuett und eine lane Beweglichkeit. So
daß die Frage nach dem Warum? dieses Abends ungelöst blieb. Auch
die Musik von Dohnanyi kam über einige unoriginelle Illu¬
strierungen nicht hinaus.
Interessant das Publikum. Meist Russen. Emigranten, die der
harten Arbeit drüben fluchen und sich nach den Pfründen des Zaris¬
mus sehnen. Sehr gut angezogen. Es scheint ihnen nicht schlecht
zu gehen. Man sollte immer beim Lesen der reaktionären Russen¬
zeitungen in Berlin an diese Leute denken. Rußland kann froh sein,
daß es sie los ist.
Uebrigens: nichts ist überflüssiger als Fremdengastspiele, die
unproduktiv sind. Sie entfernen eher als sie nähern.
box 28/1
74
Boure u-Courier, Bertin
& 3 SEP M22
„Der Schleier der Pierette“.
Kammerspfrle.
Deprimierte Stimmung. Warum „muß das
sein? Wir haben so viel gutes Russische gesehen,
das Mittelgut macht mißtrauisch. Blauer Vogel,
1
wo bist du? Kikimora heißt dies russische=
Theater und Sofia Fedorowa II ist
seine Ballerine. In Rußland geschätzt als
Charaktertänzerin, aber in dieser dramatischen
Rolle unmöglich, ohne Charakter, ohne Jugend.
Pierrot, Herr Vermeil, hat gewisse statuarische
Vorstellungen, Tschabrow, der Bräutigam, ge¬
wisse gesammelte Energien. Ja, das Lied vom
Brautschleier der Pierette, das ihren Pierrot
durch die Heirat des Harlekins in den Tod treibt,
und sich selbst zuletzt auch, ist ein bißchen vieux
jeu (Schnitzler zeichnet gleichwohl als Autor),
aber es läßt sich durch gute Mimen schon
drastischer machen, zumal es eine Reihe dank¬
barer grotesker Elemente enthält. Hier ver¬
sagte das. Viel besser gelangen die Ensemble¬
tänze im zweiten Akt bei der Hochzeitsfeier, in
hübschen Kostümen graziöse Schritte, und, wenn
auch der Taumel des Wiedersehens nicht ganz
glückte, so war doch Spannung und Dämonie in
den Bewegungen derer, die auf das Entsetzliche
warten. In diesem zweiten Akt wirkte auch
die helle Dekoration der Gontscharowa, in den
Pierrotakten war das Dekorative Kompromiß.
Etwas Armes, Gezwungenes, Notdürftiges lag
in der Luft.
1
Die Musik Dohnanyis ist das Reizvollste
dieses Stückes, das im Ausland sehr viel, hier
sehr weng gespielt wird. Sie ist von reizender
Erfindung, Rhythmik, Melodik in allem Tänze¬
rischen und ist kammermusikalisch oft durch geist¬
reiche Wendungen und Solokunststücke belebt.
Im Ernsten freilich erscheint sie uns heute nicht
zu ihrem Vorteil vielfach in der Geste Wagners.
Dieses Orchester (unter Herrn Forter) raubte
ihr manches von ihrer Liebenswürdigkeit und
ihrer Sinnlichkeit. Auch das blieb ärmlich.
Deshalb sage ich: ohne zwingende Gründe.
Wir lieben die russische Kunst zu sehr, um nicht
Außergewöhnliches von ihr zu erwarten und zu
verlangen.
Bie.
T ATTRrR Ter Auueemer gon
BERLIN SO 16. RUNGESTRASSE 22-24
Berliner Lokal-Anzeiger
Zentralorgan für die Reichshauptstadt
Ausschalt aus der Rummer vom.
Kn
Kunft und Wissenschaft.
R. R. Kammerspiele des Deutschen The¬
nters. „Der Schleier des Pierette“
Arthur) Schnitzlers nicht sehr beseelte
Pantorhin vran Jahren auch in Berlin
gegeben, wurde von einer russischen Gesellschaft
„Kikimora“ wieder ans Licht der Rampe geholt.
Ernst von Dohnanji hatte eine Musik dazu
geschrieben, die das vage, zerbrechliche Leben dieser
Dichtung, in der Schnitzler sich selbst bestiehlt,
vollends zum Erlöschen brachte. Pierrot und
Pierette, Harlekins. Die Gestalten der Tragödie
„Der Schleier der Beatrice" sind zu Puppen ge¬
worden. Pierette vergißt den Schleier, den Hoch¬
zeitsschleier bei Pierrot. Der melancholische Reiz,
der — es ist immerhin Schnitzler, der die Pan¬
tomime erdachte — aus einigen Stellen aufblühen
könnte, wurde von den Russen völlig verkitscht.
G·
Richt das Tanzerische, nicht das Mimische erreichte
nur den üblichen Durchschnitt. Ein paar leidlich
hübsche Tanzbilder im zweiten Akt litten auch an
der Enge des Aufbaus. Man konnte den Beifall
durchaus den russischen Landsleuten des jungen
Unternehmens überlassen.
—
7
ADOLF SCHUSTERMANN
ZEITUNGSNACHRICHTEN-BUREAU
BERLIN SO. 16, RUNGESTR 22-24
Zetung: Berliner Volkszeitung
Morgen-Husgabe
Adresse, Berlin
2 4 SE P. 1997
Datum:
üssische Dankomime in Berlin.
„Der Schleier der Pierette.“
In den Kammerspielen gab man Arthur Schnitzler
Pantomime „Der Schleier der Pierrette“ Ein allmödtsche
echtes Tanzspiel von der Liebe Pierrots. Mit den russischen Beinen
des berühmten Theaters Kikimora getanzt. Man hatte erwartet
Durchbruch zu einer neuen Form, Temperament, revolutionäre Auf
wühlung der Seele vor mimischer Offenbarung. Moskauer Staats¬
ballett — man hatte sich gefreut. Und sah: eine tränenselige Idylle
vom Tod, ein hübsches Menuett und eine lane Beweglichkeit. So
daß die Frage nach dem Warum? dieses Abends ungelöst blieb. Auch
die Musik von Dohnanyi kam über einige unoriginelle Illu¬
strierungen nicht hinaus.
Interessant das Publikum. Meist Russen. Emigranten, die der
harten Arbeit drüben fluchen und sich nach den Pfründen des Zaris¬
mus sehnen. Sehr gut angezogen. Es scheint ihnen nicht schlecht
zu gehen. Man sollte immer beim Lesen der reaktionären Russen¬
zeitungen in Berlin an diese Leute denken. Rußland kann froh sein,
daß es sie los ist.
Uebrigens: nichts ist überflüssiger als Fremdengastspiele, die
unproduktiv sind. Sie entfernen eher als sie nähern.
box 28/1
74
Boure u-Courier, Bertin
& 3 SEP M22
„Der Schleier der Pierette“.
Kammerspfrle.
Deprimierte Stimmung. Warum „muß das
sein? Wir haben so viel gutes Russische gesehen,
das Mittelgut macht mißtrauisch. Blauer Vogel,
1
wo bist du? Kikimora heißt dies russische=
Theater und Sofia Fedorowa II ist
seine Ballerine. In Rußland geschätzt als
Charaktertänzerin, aber in dieser dramatischen
Rolle unmöglich, ohne Charakter, ohne Jugend.
Pierrot, Herr Vermeil, hat gewisse statuarische
Vorstellungen, Tschabrow, der Bräutigam, ge¬
wisse gesammelte Energien. Ja, das Lied vom
Brautschleier der Pierette, das ihren Pierrot
durch die Heirat des Harlekins in den Tod treibt,
und sich selbst zuletzt auch, ist ein bißchen vieux
jeu (Schnitzler zeichnet gleichwohl als Autor),
aber es läßt sich durch gute Mimen schon
drastischer machen, zumal es eine Reihe dank¬
barer grotesker Elemente enthält. Hier ver¬
sagte das. Viel besser gelangen die Ensemble¬
tänze im zweiten Akt bei der Hochzeitsfeier, in
hübschen Kostümen graziöse Schritte, und, wenn
auch der Taumel des Wiedersehens nicht ganz
glückte, so war doch Spannung und Dämonie in
den Bewegungen derer, die auf das Entsetzliche
warten. In diesem zweiten Akt wirkte auch
die helle Dekoration der Gontscharowa, in den
Pierrotakten war das Dekorative Kompromiß.
Etwas Armes, Gezwungenes, Notdürftiges lag
in der Luft.
1
Die Musik Dohnanyis ist das Reizvollste
dieses Stückes, das im Ausland sehr viel, hier
sehr weng gespielt wird. Sie ist von reizender
Erfindung, Rhythmik, Melodik in allem Tänze¬
rischen und ist kammermusikalisch oft durch geist¬
reiche Wendungen und Solokunststücke belebt.
Im Ernsten freilich erscheint sie uns heute nicht
zu ihrem Vorteil vielfach in der Geste Wagners.
Dieses Orchester (unter Herrn Forter) raubte
ihr manches von ihrer Liebenswürdigkeit und
ihrer Sinnlichkeit. Auch das blieb ärmlich.
Deshalb sage ich: ohne zwingende Gründe.
Wir lieben die russische Kunst zu sehr, um nicht
Außergewöhnliches von ihr zu erwarten und zu
verlangen.
Bie.