II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 343

23. DenSchleiender-Pierrette
Dr. Max Goldschmielt
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Ausschnitt aus:
Hamburger Fremdenblatt
16. Juli 40°
S.

Thealer, Kunst und Wissenschaft.
Thalia=Theater.
Gastspiel:
Taiross's Moskauer Kammertheater.
Der Schleier der Pierrette.
Dies=Pantomime Schnitzlers mit der
dazsgehorigen Musik von E. Dohnany
wulde er#####rzlich im hiesigen Stadt=Theater
zur Aufführung gebracht. Also dürfte
oder
solkte — nein, müßte das Werk eigentlich be¬
kannt sein. Aber Freunde (Künstler, urteils¬
sähige Laien, Musiker und Musikkritiker), die
jene Aufführung sahen, erzählten mir, der sie
nicht sah, sie hätten das Werk erst jetzt kennen¬
gelernt: bei T a
Ich dachte:
n long way io Tipperary; doch der von Sachse'n
nach Rußland, wo Kunst mit Andacht und Aus¬
dauer und seinen lebendigen Sinnen gepflegt
wird, scheint noch viel weiter zu sein.
Bliemchenkasseekanne und Samovar. Die eine
ist zwar „warm gestellt“, aber im andern
brodelt's. (Nämlich von Ideen, künstlerischen
Einfällen und unablässigen Bestrebungen.) Ein
Unterschied, der immerhin zu denken geben
sollte!
Tairoff hält — wie übrigens auch Max
Reinhardt, der soeben eine internationale
Pantomimengesellschaft gegründet hat
von
der Pantomime im allgemeinen sehr viel. Er
sagt zwar nicht geradeheraus, daß er in ihr den
letzten und höchsten Gipfel der Bühnenkunst
sieht, aber er erkennt ihr doch eine bominierende
Stellung zu. Wohinter ich mir immer noch ein
gutgenährtes Fragezeichen zu setzen erlaube.
Es wäre vielleicht nicht einmal so sehr schade,
der schönen Satzeier wegen, welche unsere Dich¬
ter legen, denn diese Eier haben sich in neuerer
Zeit des öfteren als sehr faul erwiesen, son¬
dern weil eben doch die Paniomime nicht alles,
was mit dem Wort auszudrücken ist, deutlich
zu machen vermag. Manches überhaupt nicht.
Hätte sonst Alexander Tairoff dem Programm
einen Zettel beigelegt, auf dem zum besseren
Verständnis der Gang der Handlung in Worten
ungegeben wird?
Soviel im allgemeinen. Nun zum Beson¬
deren, zu Schnitzlers „Schleier
r
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ette“. Ich finde diese Pantemime
nellenweise ein wenig dünn. Was diese Russen
trotzdem aus ihr herausholen, ist erstaunlich.
Wenn sich gelegentlich auch in der Darstellung
Dünnheiten und Zerdehnungen bemerkbar machen,
so kommt dies wohl daher, daß der Schauspieler
an die Musik gebunden ist und mit ihr gleichen
Schritt halten muß. Er könnte und würde sich
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wohl an manchen Stellen kürzer fassen und
prägnanter sein. Aber dann wäre er früher
fertig als die Musik. Also sieht er sich gezwun¬
gen, zu dehnen oder die Zeit mit Unwesent¬
lichem zu füllen.
Alexander Rumneff, der schon zweimal
schöne Proben einer starken schauspielerischen
Individualität abgegeben hat, spielt den Pierrot.]
Er gleitet feinfühlig an der Linie der Musik
hin. Er bricht in einer Kadenz zusammen. Und
er erhebt sich wieder: in einer leisen Dekadenz.
Im Streben nach Schönheit der Bewegung,
nach nicht alltäglichen Gesten, nach der Unwirk¬
lichkeit auch in den Gebärden läßt er sich manch¬
mal zu Haltungen hinreißen, die affektiert, zu
Attitüden, die süßlich sind. Sonst aber ist er
wieder ganz samos. Welche rhythmischen Schwin¬
gungen gehen noch von seinem toten Pierrot aus!
Alice Coonen: Vor zwei Tagen war
sie Salome, heute ist sie Pierette. Nicht die
kokette, ewig muntere und spitzbübische Pierrette.
Nicht ein Prima Ballerinchen mit rosig ge¬
schminktem Gesicht und dem eingeweckten Lächeln
darauf. Sondern das Liebesleid und die Lie¬
bessehnsucht aller Zeiten und Länder personifi¬
ziert, inkarniert und gekleidet in das Gewand
der Pierrette. Eine Gestalt aus dem Reich der
Tragik. An wen gemahnt sie? Diese Augen?
Duse. Manchmal sogar Duse mit Präfix:
Meduse. Edel geformter Marmor, dessen Starrheit
Leben gewinnt. Das ist Alice Coonen als Pier¬
rette. Zarte Traurigkeit weht von ihr her. Angst
flattert, Entsetzen irrlichtert aus ihr. Und eine
unendliche Sehnsucht schluchzt aus all ihren Be¬
wegungen. Grandios ihr Tanz mit Harlekin,
dieser rasende Tanz, in dem ihr Körper in der
Gewalt des ungeliebten Mannes ist und doch
flüchtig, sehnsüchtig fliehend zu der Erscheinung
des toten Pierrot hin.
In
prachtvollem Crescendo wächst das
wechselvolle Spiel der Massenbewegung — immer
schön, immer wundervoll gegliedert und rhyth¬
misiert — zu diesem rasenden Tanz auf. Dazu
eine raffiniert einfache Dekoration: ein dunkler
Hintergrund, ein paar helle Schnüre davor, ein
paar Podeste, ein paar Stufen — das ist alles.
Und ist doch unerhört wirkungsvoll.
Wer es nicht gesehen hat, sondern lieber
dem blauen Sommerabend nachlief, hat etwas
versäumt. Unvergeßliche Augenblicke. Hinreißen¬
des Spiel, das den langanhaltenden Beifall
berechtigte.
Max Alexander Meumann.
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