II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 44


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Cahleien-Dellage.

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I wenn die Zustimmung des Herzogs nicht zu erlangen ist, darüber waren
Burgtheater. ## 0

die Liebenden schon längst einig geworden. Den Ausweg, mit dem Kinde
des Geliebten unter dem Herzen die Frau eines braven Bürgers zu
„Der junge Medardus“ von Schnitzle#.
werden — Etzelt, der Geschäftsleiter der Buchhandlung, der von der
Eine dramatische Historie nennt Schnitzler sein neuestes Drama.
Natur in seinem Aeußeren etwas stiefmütterlich bedacht, Agathen aber
Wer ihm helsen will, nach charakterisierenden Bezeichnungen suchen,
von Herzen zugetan ist, wäre wohl der Mann, auch ihr Kind aufzu¬
könnte vielleicht auch sagen, Bilder aus dem Wiener Volksleben von
nehmen wie sein eigenes — weist Agälhe, da Francois ihn anregt
1809. Freilich fehlte da der ausdrückliche Hinweis auf das Moment,
als Weg der Rettung für sie, ohne auch nur einen Augenblick zu
das gewöhnlich und jedenfalls auch bei Schnitzler mit dem Worte
überlegen, von sich, und an dem schönen Frühlingsabend, den ihnen
„Historie“ gemeint wird. Den Personen aus dem Volke stehen
das Schicksal noch gegönnt, wandern die beiden, einen kleinen Spazier¬
nämlich in Schnitzlers Dichtung Personen aus dem Bereiche der
gang auf die Basteien vorschützend, hinab in die geheimnisvollen
richtigen Geschichte gegenüber. Im Hintergrunde gar Napoleon der
Donauauen und gehen gemeiam in die still ihre Wasser dahin¬
Große. Und unter denen, die als handelnd vor den Zuschauer
wälzenden Fluten.
treten, einer seiner Generäle. Und dann ein Prätendent nebst
In einem kleinen Wir#thaus in den Auen — an die Art
Anhang. Prätendenten, vielleicht weil allenthalb schon irgendwo
etwa mahnend, wie in der Einsamkeit jenseits des Stromes, nicht
irgendwelche ihre „Residenzen“ aufgeschlagen haben, erfreuen sich wohl,
heute noch die Schenke mit
unweit von „Napoleons Brückenkopf“,
ob sie nun diesem oder jenem alten Geschlechte angehören, von
dem romantischen Namen Finsterbusch zwischen Auen und Wasser¬
diesem oder jenem Volke hinauskomplimentiert worden sind, diese
#armen liegt — feiern Medardus und eine Schar Studenten und
oder jene Krone als legitime Anwärter in Anspruch nehmen,
Studentenfreundinnen ein Abschiedsfest. Mitten in den Uebermut und
keines besonderen Anwertes als Figuren historischer Vorführungen.
die eigentümliche Wehmutsstimmung des Abschiedes bringt man die
Und so disqualifiziert es also Schnitzlers „Historie“ durchaus
Leichen von Agathe und Françots herein, die der Strom hier, wie
nicht, daß die Namen seiner Helden aus dieser Welt der Ansprüche
schon so manche Toten, nach kurzer Fahrt in das Schilf getrieben.
nicht die Namen bestimmter historischer Persönlichkeiten sind: sondern
Medardus aber überläßt unter dem Eindruck dieses Ereignisses seine
es nimmt seiner Historie nur den unangenehmen Beigeschmack, den
Stelle im Bataillon einem andern, der ihn schon früher darum,
Reminiszenzen an einen konkreten Fall bei vielen wecken würden,
damals freilich erfolglos, gebeten. Denn er meint, seine Hand habe
denen diese prätentiösen, in Europa herumresidierenden Prätendenten¬
jetzt „vielleicht noch irgendwas zu besorgen,“ und weiß, „was heut'
familien, die nicht der Throne vergessen können, von denen ihre
geschah, das ist ein Anfang — kein Ende“.
Ahnherren einst entfernt worden sind, als minderwertig für richtige
Das Vorspiel ist für sich eine kleine Tragödie, eine Tragödie,
Theatereffekte gelten. „Historisch“ in einer Dichtung ist, was dem
die den Liebenden und ihren Angehörigen aus Klassengegensätzen
Geiste der Zeit, in die uns der Dichter führen will, entspricht. Und
heraus erwächst, aus einem erträumten Klassengefühl — welches
in diesem Sinne sind der Herzog und der Marquis von Valois
Klassengefühl ist übrigens kein erträumter Irrwahn? — und
historische Typen; genau so „historisch“ als die Figuren es wären,
wenn der Dichter statt des Namen Valois etwa den Namen Bercy
denen sich schon einmal der Novellist Schnitzler ein wirksames Motiv
oder einen andern gesetzt hätte. Den Schlag der emigrierten Präten¬
geholt hatte. Vor uns aber öffnet das „Vorspiel“ einen weiten Aus¬
denten kennen wir speziell seit langem. Der Dichter hat uns mit
blick, welchem „Ende“ wohl der junge Medardus zuführen könnte,
scharfen Strichen die Gattung vorgeführt; darauf, uns eine historische
was das Geschick so tragisch begonnen?
Individualität zu zeichnen, hat er verzichtet, und wir können ihm
Einen Wunsch hatte der Herzog seinem Sohne doch nicht uner¬
vielleicht nur dankbar sein.
füllt lassen können, den Wunsch, daß er mit der Geliebten in
Das Vorspiel bringt uns eine Liebestragödie, die zwischen den
einem Grabe bestattet werde. Und so sehen wir zu Beginn des
Angehörigen zweier Welten sich abspielt. Der bürgerlichen Welt
ersten Aktes nach einer drastischen Szene unter den Friedhofs¬
unseres alten Wien und der Welt der exilierten Bourbonen, die
besuchern, die etwas an den kühren Wurf gemahnt, den Halbe mit
von der Wiederaufrichtung der Herrschaft des legitimen Prätendenten
seinen humoristischen Reden der Begräbnisgäste in seiner „Mutter
träumen. Beiden Welten war wohl nur eines gemeinsam, die feind¬
Erde“ gewagt, die zwei Leichenzüge auf dem Friedhofe zusammen¬
selige Gesinnung gegenüber Napoleon.
treffen, und nun wird der Grundstein gelegt für die Haupttragödie.
Das Vorspiel (bei der Aufführung war die Einteilung in
Nachdem alle außer Medardus, der sich weinend aufs Grab
Vorspiel und Akte unterblieben) führt uns in das Haus der Buch¬
geworfen, sich entfernt, kommt Helene, von ihrem Kammermädchen
händlerswitwe Klähr. Zwischen ihrer Tochter Agathe und dem ein¬
Nerina geleitet, und legt ihrem Bruder Blumen aufs Grab. Da erhebt
zigen Sohne des Prätendenten, des Herzogs von Valois, hat sich
sich Medardus, der gerade noch geklagt, daß seine Tränen den Vorsatz
ein ernster Liebeshandel entsponnen, der gerade am Tage, bevor
der Rache mit sich fortschwemmen, und fordert Helenen auf, die
Agathens Bruder Medardus zu den Bataillonen einrücken soll, die
Blumen zu entfernen, weil auch seine Schwester in diesem Grabe
gegen Napoleon formiert werden, an einem kritischen Punkte an¬
ruhe, und er die Blumen zertreten würde, wenn sie nicht fortgeschafft
langt. Dem jungen Francois ist das Klährsche Haus verboten, „bis
werden. Während dieser Szene tritt der Marquis von Valois
er nicht als Werber erscheint in seiner hochgebornen Eltern Be¬
heran, ein Verwandter Helenens, nun der nächste Erbe der Ansprüch¬
gleitung". Und dazu scheint wenig Aussicht zu sein. Denn der
des Herzogs, und rasch ist aus dem Wortwechsel wegen der zurück¬
Herzog, nach der Charakteristik, die Agathens Freundin Anna von
gewiesenen Blumen eine Forderung zum Duell geworden. „Hoch
ihm gibt, „ein armer doppelt blinder Narr, der mit den Seinen
mütig mörderische Finger“ hatte Medardus ihre Hand genannt, und
jahrelang in Deutschland von Stadt zu Stadt gezogen ist, überall
jetzt sagt deren Eignerin mit plötzlichem Entschlüsse zum Marquis:
des Orts verwiesen wurde, bis ihm hier unser guter Kaiser ein
„Töten Sie den jungen Menschen, der da eben fortging und ich
Asyl gewährte“, ist sehr stolz, wenn ihm auch Napoleon den Herzogs¬
will die Ihre sein“. So haben beide ein jedes aus dem Impulse
titel abgesprochen hat, und träumt nur von der Restauration und
des Augenblickes gehandelt, so leicht auch der andere Teil sein
dem Wiederaufblühen seines Geschlechtes.
Handeln anders deuten mochte.
Da erscheint in der schwülen Abschiedsstimmung des Tages vor
Und nun beginnt eine Partie des Stückes, die mit einer ganz
dem Abmarsch François in der Wohnung bei Klähr, um Medardus
eigentümlichen, außerordentlichen, geradezu raffinierten Technik ge¬
die Hand zum Abschied zu drücken und die Nachricht zu überbringen.
arbeitet ist. Wir werden an die Sensation und Spannung in den
daß seine Eltern „morgen zur Mittagszeit ihre Aufwartung machen“
Werken aus der Blütezeit eines Dumas oder Sardou gemahnt, nur
werden, weil ja der Vater endlich wohl eingesehen habe, „daß es
müssen wir uns darüber klar sein, daß hier mit ganz anderen, ich
auch seine ungeheuersten Pläne besser fördert, einen Sohn zu haben,
möchte sagen lautereren Mitteln gearbeitet wird. Wie gerne wurden
der ein Bürgermädchen freit — als keinen.“ Aber die Zustimmung
uns in den Romanen und Dramen der gedachten Zeit Gestalten vor¬
der Eltern wax nur eine Verzweiflungslüge des Augenblickes. Der
geführt, die durch die seltsamsten, unerwartetsten Handlungen höchste
Vater war unerbittlich, die Matter ist ohne jede Macht und die
Ueberraschung und Spannung erweckten, deren Züge aber in eherner
Schwester Helene hat nur Hohn für die Bemühungen ihres Bruders.
Undurchdringlichkeit keinen Blick in ihre Seelen gestatteten, bis dann
Agathe hat aber soeben ihrem Bruder bei des Vaters Grab geschworen,
irgend welche unerwartete, unerratbare, seltsame Geschehnisse Auf¬
was sie sich selbst schon längst geschworen hatte, daß sie nie Schande 1 klärung und Lösung der Spannung brachten. Diese Spannung, diese
über ihr Haus bringen werde: und darüber, was zu geschehen habe, 1 regungslose Verschlossenheit finden wir auch hier aber keine seltsamen