II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 45

Ereignisse bringen die Lösung, sondern — und darin scheint mir die
zwischen Haß und Liebe, in der wir Medardus eben sahen, erhält
Besonderheit bei Schnitzler, das Künstlerische seiner Kunst zu liegen —
er die Botschaft, daß Bonaparte, „den er am meisten gehaßt unter
die Auflösung besteht nur darin, daß uns die Psychologie der
allen Menschen, die leben“, auf dem Wege nach Wien ist. Und nun
Handelnden klar wird, die der Autor zuerst geschickt vor uns ver¬
folgt ein prächtiges Bild aus dem belagerten Wien; die Burgbastei
borgen hatte. Gleich die folgenden Szenen mit ihrer außerordentlich
mit einer Fülle von Gestalten, wie nur ein Dichter sie aus einem
starken dramatischen Spannung geben zu dem Gesagten eine
verrauschten Leben zu greifen vermag. Auch hören wir da außer
Illustration.
allerlei die allgemeine Situation und Stimmung scharf charakterisieren¬
Der Marquis berichtet Helenen, daß er, selbst rasch ver¬
den Reden ein Wort, das Medardus zu Etzelt spricht und das uns
wundet, seinem Gegner wohl noch einen Degenstich geben, aber
seinen Seelenzustand klar beleuchtet, soweit er ihm eben selbst klar
seinen Auftrag doch nur halb erfüllen konnte. Sie aber erklärt ihm,
ist: „es liegt nicht viel daran, ob du es Liebe nennen willst oder
sie werde trotzdem ihr Wort ganz einlösen. Starke Liebe Helenens
Haß ... ich weiß, es wird mich und Helene und die Welt ver¬
zum Maiquis fällt uns nirgends auf; wohl aber sehen wir bei ihr
zehren. Was tut's. Wir werden doch in der gleichen Stunde sterben,
eine außerordentliche Liebe zum Vater, dem sie seinen Lebenswunsch
die Welt und ich.“
erfüllen möchte, dem sie einen Enkel schenken möchte, der einmal
Voll dramatischer Spannung ist die nun folgende Szene in
König von Frankreich werden wird. So weit sehen wir ja ganz
der Behausung der Valois, wo Medardus in die Vermählungsfeier
klar; eine seltsame Spannung aber erweckt es in uns, wenn un¬
Helenens hineinplatzt und der General Rapp plötzlich erscheint, in
mitt lbar nach dem bindenden Wort zu dem Marquis Helene ihre
Napoleons Namen dessen hier versammelte Untertanen seiner kaiser¬
Zofe zu Medardus um Auskunft über sein Befinden sendet und ihr
lichen Gnade zu versichern und für den nächsten Tag zu der im
die Blumen mitgibt, die den Anlaß gebildet zu seiner Verwundung.
Schlosse Schönbrunn stattfindenden Cour einzuladen, der Neu¬
Diesem anregenden Abschluß aber folgt nun Emotion auf
vermählten aber ein Perlenhalsband als Hochzeitsgabe zu über¬
Emotion. Die Wunde des Medardus ist nahe am Herzen, „schauder¬
reichen.
haft nahe“, wie der Arzt sich ausdrückt; sobald der Verwundete auf
Noch einmal vereint die Nacht die Liebenden, aber schon ist
seinem Schmerzenslager aber die Botschaft und die Blumen von der
das Verhängnis eingeleitet, das sie in seinen Wirbel zieht. In der
Braut seines Gegners, von der, die ihm mitschuldig war an dem
Klährschen Buchhandlung hatte Sattlermeister Eschenbacher, der seiner
Tode seiner Schwester, erhält, da läßt er ihr bestellen, er werde ihr
Schwester bei Herannahen kritischer Zeiten gleich hilfreich zur Seite
am Abend seinen Dank persönlich zu Füßen legen, und da Nerina
getreten war, den Franzosen Atlanten, nach denen sie fahndeten, mit
diesen Fiebergedanken zurückweist und es als etwas ganz selbstver¬
Hilfe seiner drei Gesellen aus dem Wege geräumt. Zufolge einer
ständliches erklärt, Prinzessin Helene werde Medardus nicht emp¬
Denunziatton werden sie bei ihm gesunden und er samt seinen
fangen, die Gartenpforte werde verschlossen sein, muß sie, „die über¬
Gesellen wird verhaftet. Meisterhaft wird die sich im Verlaufe
zeunt war, hier eine Leiche zu finden“ vernehmen, Medardus werde
der Dinge immer stärker entwickelnde Aufregung und Be¬
trotz seiner Wunde die Mauer eben „überklettern“. Prinzessin Helene
ängstigung der Bürger geschildert. Alle Bemühungen zur Rettung
ist nicht minder erstaunt und entrüstet als ihre Botin war, und in
Eschenbachers sind umsonst. Frau Klähr hat, nachdem sie
ihrer Entrustung wirft sie den Schlüssel des Gartenpförtchens in den
nicht zu Napoleon gelassen wurde, die
ganze Nacht in
Teich. Diener machen im Garten die Runde, draußen hört man
Schönbrunn verbracht in der letzten Hoffnung einer Verzweifelnden,
schon die Einlaß fordernde Stimme des Medardus, Mauer¬
„der Kaiser wird sich an einem Fenster blicken lassen, und ich kann
steine bröckeln, und jetzt kommt Medardus herübergestiegen.
zu ihm hinaufrufen, oder er schickt herunter und läßt fragen, was
Streifende Diener naben sich wieder, da befiehlt Helene,
ich da will ..“
Aber alles vergeblich: beim Morgengrauen wird
Nerina solle Medardus in ihr Zimmer führen, und da
Medardus' Oheim auf dem Glacis erschossen.
die Zofe davor zurückschreckt, „einen jungen Mann“ in ihr Zimmer
Schon des Medardus Vater war in gewissem Sinne ein Opfer
zu lassen, sagt die Prinzessin „nach einem langen Blick auf
Napoleonischer Willkür gewesen. Auch auf dem Glacis. Von 7 Uhr
Medardus“: „So führ' ihn in mein's!“ Und daran reiht sie (im
abenos bis Mitternacht hatte die ganze Bürgergarde dort im
Text des Buches allerdings nur) noch den Auftrag: „Sobald du
Schneesturme stehen müssen, um vor ihm zu paradieren, veraeblich
herunterkommst, wirst du Schuhe und Strümpfe ausziehen, in den
warten müssen, wie Lakaien, und war dann nach Hause gechickt
Teich steigen und den Schlüssel suchen. Er muß gefunden sein, bevor
worden: worauf Vater Klähr sich hinlegte und nach drei Tagen
die Sonne aufgeht.“ Dem Marquis aber hat sie schon die Be¬
am Fieber starb. Und jetzt wirft die Mutter in seine Seele eine
dingung gestrut, daß er gleich nach der Trauung ohne sie nach
Anregung zu dem Gedanken, eine Tat, welche die Welt befreit,
Frankreich resen müsse, dort die Angelegenheit der Valois zu be¬
mache das Leben die Mühe wert, es zu leben. Und eine andere noch,
treiben, und nun verkündet sie ihm noch, sie wolle nicht früher einen
Helene, versuchte ihn zu derselben Tat zu bestimmen — die den
Sohn zu erwarten haben, ehe sie sicher sei, daß er bestimmt ist, ein¬
Valois die Krone von Frankreich brächte. Und nun folgt wieder
mal König von Frankreich zu werden.
jenes Spiel der Spannungen und Ueberraschungen mit den Lölungen
Die Motive Helenens uad des Medardus könnten also eigent¬
aus seelischen Vorgängen heraus. Auf der Freitreppe in dem Schlo߬
lich schon ganz klar vor uns liegen, so unerwartet auch ihre
hofe von Schönbrunn ersticht Medardus Helenen. Erste Ueber¬
Handlungsweise nach ihrer früheren Haltung und ihren ge¬
raschung. Kaum ist Medardus verhaftet, erscheint in seinem Kerker
äußerten An= und Absichten zunächst kommen mochte; freilich,
General Rapp, um ihm im Auftrage des Kaisers Napoleon die
nach dem tragischen Ansatze des Vorspieles allein schon könnten
Freiheit zu geben. Zweite Ueberraschung. Aber Medardus weist
wir hier und dort an irgendwelche düstere Nebenabsichten
hartnäckig die Freiheit zurück und beharrt auf dem Recht zu sterben.
denken und wir erfahren ja bald, daß sie bei Medardus auch
Denn er habe Napoleon ermorden wollen. Selbst denen, die ihm
tatsächlich vorhanden waren. Seinem Freunde Etzelt, der ihn im
diese Absicht schon zugetraut, mag dieses Geständnis einer
Morgengrauen aus der Gartenpforte schlüpfen sieht, und dem er
geplanten Tat die dritte Ueberraschung sein. Also eine ganze Reihe
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gesteht, daß er aus den Armen der Prinzessin von Valois komme,
von Ueberräichungen. Aber wie einfach erklärt sie sich aus der Seele
saat er, was sein Plan sei, oder wovon er sich wenigstens einredet,
der Handelnden heraus von dem Augenblicke an, wo die Mutter
daß es sein Plan sei: „Die Diener ruf ich zusammen und die
mit einem Blick auf Medardus den Gedanken in ihm zündete, von
Mägde und schrei es durch den Flur und lasse den Hersog rufen
dem Manne die Welt zu befreien, dessen Willkür Eschenbacher hatte
und die Herzogin, und zerre die Prinzessin aus dem zerwühlten
erschießen lassen und seine Gesellen begnadigt hatte.
Bett nackt über die Treppe.“ Wohl meint Etzelt, „hättest du
Der Mutter „Anregung“ war auf fruchtbaren Boden gefallen.
dich wirklich mit so verruchter Absicht getragen, so hättest du sie
Aber Helenens Gedanke, Medardus zu einem Werkzeuge der Valois
ohne Verzug zur Tat aemacht;“ aber die Erwiderung des Medardus
zu machen, zog ihm die Tat ins Niedrige und Lächerliche herab, so
klingt auch ganz plausibel, denn sie ist so echt menschlich: „es ist
daß er sich stolz von ihr abwandte. Da kam das Gerücht zu ihm,
noch nichts versäumt, das Leben ist sehr kurz — warum soll man
Helene sei Napoleons Geliebte, und die Erniedrigung Helenens
nicht ein Paar wunderbare Nächte haben?“ — Aber auch bei der
machte die von ihm schon beabsichtigt gewesene Tat wieder rein von
Prinzessin müßte uns doch irre machen an der Auffassung ihres
der Beschmutzung, die ihr durch Helenens Pläne widerfahren war.
Abenteuers mit Medardus einfach nur als Liebesszene, daß wir —
Nun war er zur Tat entschlossen, für die Ermordung Napoleons
freilich erst zum Aktschlusse — erfahren, sie habe den Auftrag ge¬
rüstete er sich mit dem Dolche, dem dann Helene zum Opfer ge¬
geben. „daß von heute ab beim Eintritt der Dunkelheit die Hunde
fallen — weil sie, die ihm ja als Geliebte Napoleons bezeichnet
los sein sollen“ — ganz abgesehen davon, daß ja schon die Meldung,
worden war und die er bei allem „Haß" noch immer liebte, ihm un¬
die man aus Frankreich erhalten, sie die Ermordung Napoleons
erwartet in den Weg getreten war. Helene hatte aber selbst gegen
als Notwendigkeit hatte in's Auge fassen lassen.
Napoleon eine Waffe richten wollen, und so war für Napoleon
Nach diesem mit außerordentlichem Geschick zwischen zwei
Medardus, der sie tötete, nicht ein Mörder, sondern nur einer, der
Tragödien hineingearbeiteten Ansatzkern zu einer köstlichen Komödie
ihn von einer Mörderin gerettet hat. Medardus hatte aber wirklich
nimmt nun die Historie und die zweite Tranödie, die so eigen¬
darauf die Absicht gerichtet und sich dazu bewaffnet, Nupoleon zu
tümlich begonnen, ihren Lauf. In der eigentümlichen Stimmung töten, und wenn nun Napoleon meinte, Medardus sei sein Retter