II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 169

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22. Der junge Nedandus
sationell allerdings weniger durch den Er¬
innerlich hat sie keine Träne für den Toren,
folg, der immerhin ein sehr freundlicher war,
der um einer Liebschaft mit einem Bürgers¬
als durch den Umfang des aufgeführten Wer¬
mädchen willen eine Krone hingegeben hat.
kes. Arthur Schnitzlers dramatische Historie
Medardus fordert erregt die Entfernung der
„Der junge Medardus“ ist der Wolkenkratzer
Blumen, die er sonst zu zertreten droht. Sie
unter der modernen dramatischen Produk¬
sollen in den „hochmutigen, mördevischen
Fingern“ der Valois verwelken. Helene, be¬
tion. In der urspünglichen Fassung hätte
die Aufführung sieben Stunden beansprucht,
leidigt, ruft ihrem Vetter, dem Marquis
und auch in der gegenwärtigen stark gekürz¬
von Valois, zu: „Töten Sie den jungen
ten Gestalt dauerte die Première noch volle
Menschen, und ich will die Ihre sein! „Drei
fünf Stunden. Das Werk besteht aus fünf
Stunden später erhält der Marquis einen
Akten und einem Vorspiel (17 Bilder), von
Degenstich in den Arm und Medardus einen
denen bei der Aufführung im Burgtheater
nahe beim Herzen. Es folgt nun eine ver¬
zwei gestrichen waren. Der Theaterzettel
blüffende Wendung. Helene sendet dem ver¬
wundeten Medardus die Blumen, die das
füllt eine ganze Spalte der „Neuen freien
Grab des Bruders hatten schmücken sollen,
Presse“ und umfaßt 78 Einzelpersonen und
und Medardus läßt ihr melden, er werde ihr
außerdem ein Heer von Komparsen, Volk,
Soldaten und Studenten. Das Stück spielt
noch am selbigen Abend seinen Dank per¬
in Wien während der zweiten Besetzung der
sönlich abstatten, und sollte er über die Gar¬
Stadt durch Napoleon im Jahre 1809. Es
tenmauer klettern müssen. Dies tut er auch,
ist also gewissermaßen ein patriotisches Stück,
mit dem Degenstich im Leibe, und fällt er¬
aber ohne den anderwärts beliebten Hurra¬
schöpft der Prinzessin zu Füßen, die sich grade
patriotismus, eher eine Satire auf die Klein¬
mit dem Marquis verlobt hat. Das hindert
sie nicht, den Eindringling in ihrem Schlaf¬
mütigkeit und Trottelhaftigkeit der Wiener
aus der damaligen Zeit. Im „Jungen Me¬
zimmer zu verbergen, wo ihr königlicher
dardus“ geht es stellenweise sehr laut zu. Ge¬
Hochmut zu Falle kommt. Das freilich ahnt
wehrgeknatter, Kanonendonner, Salven wech¬
sie nicht, daß sie nur aus Rache geküßt wird.
seln mit dem Flammenschein in die Luft ge¬
Seinem Freunde Etzelt enthüllt Medardus
sprengter Häuser. Elf Personen sterben, die
seinen Plan: „Und es kommt die Stunde,
meisten auf gewaltsame Art, ein Liebespaar
da zahl' ich's Ihnen heim. Die Diener ruf'
ich zusammen und die Mägde und schrei es
geht ins Wasser, ein kleines Mädchen wird
durch den Flur und lasse den Herzog rufen
durch einen Granatsplitter getroffen, zwei
Offiziere fallen durch Schüsse, mehrere Per¬
und die Herzogin und zerre die Prinzessin
sonen erleiden kriegsrechtlich den Tod durch
aus dem Bett, über die Treppe.“ Aber auch
Pulver und Blei, zwei Akteure werden im
sie ist eine komplizierte Natur. Nach der
Duell verwundet. Gleich das Vorspiel bringt
Medardusnacht will sie die Hunde auf den
Geliebten hetzen lassen, geht dann hin und
einen Doppelselbstmord, der erste Akt be¬
heiratet den Marquis. Inzwischen wird
ginnt mit einem Doppelbegräbnis, und der
des Medardus Onkel Eschenbacher,
eine
zweite damit, daß der junge Medardus halb¬
tot aus einem Duell heimgedracht wird.
historische Reminiszenz — auf Befehl Napo¬
Er ist der Sohn der Buchhändlerswitwe
leons füsiliert. Medardus will ihn rächen
Franziska Klähr. Seine Schwester Agathe
und Napoleon ermorden. Zu dieser Tat i
unterhält mit François, dem Sohne des in
hatte ihn auch Helene anzustiften gesucht,
Wien lebenden französischen Thronpräten¬
aber er will kein gedungener Mörder
denten, des Herzogs von Valois, ein Liebes¬
Solde der Valois sein. Zudem geht das
verhältnis und das Liebespaar sucht den
Gerücht, daß Helene in Schönbrunn die Ge¬
gemeinsamen Tod in der Donau. Die Lei¬
liebte Napoleons geworden sei. Nach der
chen werden aus dem Wasser gefischt und in
Hinrichtung Eschenbachers ist er aber zur
Tat entschlossen. Schon befindet er sich auf
ein Wirtshaus der Praterau gebracht, wo
der Freitreppe des Schlosses Schönbrunn,
gerade Madavdus und eine Schar junger
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feiern,
Studenten Abschied von der Heimat
da tritt ihm Helene in den Weg. Während

soeben der Friedensschluß verkündet wird,
um gegen die Franzosen zu ziehen. Beim
sticht er sie mit dem für Napoleon bestimmten
Anblick seiner toten Schwester verfällt Me¬
und
Dolche nieder. Medardus kommt ins Ge¬
dardus in hamlet=karlmoorische Wehe¬
fängnis. Da teilt ihm General Rapp im
Racheklagen gegen das Haus Valois. Auf
Auftrage Napoleons mit: „Sie haben dem
dem Kirchhofe vor dem Doppelgrabe trifft
Kaiser von Frankreich das Leben gerettet.
er mit Helene von Valois, der Schwester des
ine
Selbstmörders, zusammen. Sie wirft ihrem
Sie haben ein Frauenzimmer unschädlich
sen=] Bruder ein paar Blumen in das Grab, abergemacht, das mit der Absicht ins Schloß kam 1 v
Seine Majestät zu töten.“ Medardus ist
sprachlos und spielt nun die bekannte Rolle
des Naumburger Pfarrersohns Friedrich
Stapß, der 1809 in Schönbrunn den Ernie¬
driger Deutschlands mit einem Küchenmesser
erstechen wollte, und auf die Frage Napo¬
lcons „Und wenn ich Sie nun begnadige",
antwortete: „Ich werde darum nicht minder
Sie töten.“ Er wurde hingerichtet. Und
auch Medardus wird an die Mauer gestellt
und erschossen.
Nach Vollzug des Urteils verkündet Gene¬
ral Rapp: Es ist der Wille des Kaisers, daß
Medardus Klähr mit allen Ehren in geweih¬
ter Erde begraben werde, als dieses Krieges
letzter und seltsamster Held.“ Die Hamlet¬
rolle des Medardus war für Kainz geschrie¬
ben. An seiner Statt gab sie Gerasch, der
sie zweifellos nicht ganz ausschöpfen konnte.
Doch hatte er manche prächtigen Momente.
Ausgezeichnet war Fräulein Wohlgemuth
als Prinzessin Helene. Auch die übrigen
Darsteller, wie auch die Volksszenen waren
vortrefflich. Arthur Schnitzler wurde fast
nach allen Szenen gerufen. Trotzdem machte
sich zum Schluß eine starke Ermüdung nicht
nur des Publikums, sondern auch der Dar¬
steller bemerkbar. Ob der „Junge Medar¬
dus“ auch außerhalb Wiens bühnenfähig
wäre, muß stark bezweifelt werden.