II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 183


unwillkürlich auch dem blasiertesten Gedächtnis einwurzeln
nach meiner Erfahrung das verläßlichste Kennzeichen echten
und eigenartigen Wertes, weil das nur Werke tun, in
von Urneuem steckt
denen mindestens ein Körnchen
gerade diese erweisen sich fast immer als Verflechtungen der genannten
drei Themata, wobei bald der Liebe, bald dem Tod, bald dem Wahn
die führende Stimme zufällt. So ist's in „Sterben, in der Novelle
„Die Toten schweigen, in „Parazelsus", in der „Gefährtin, im
„Grünen Kakadu, in der „Frau mit dem Dolch“, den „letzten Masken ,
im „Schleier der Beatrice", in den „Dämmerseelen“ im „Leutnant.
Gustl“ und manchen anderen Geschichten und Bühnenspielen. In
allen führen Eros, Thanatos und Dionysos mannigfaltig
varüierte, viel verschlungene Tänze und Spiele auf, haschen
suchen bald einander nachzuäffen.
sich und fliehen sich,
bald voneinander grell abzustechen, stehlen eines des anderen Waffe
oder Symbol, so daß einmal Eros oder Thanatos die Maske des
mimischen Gottes trägt, dann wieder Thanatos sich statt seiner Seuse
des Erospfeiles bedient, um ein Leben zu vernichten. Niemals aber
zerreißt der darüber gebreitete feine. Traumschleier, niemals, trotz aller
Wahrheit und Lebendigkeit der Darstellung, wirft uns die Empfindung,
einen Naturabklatsch vor uns zu haben, aus der Welt der Poesie in
die nüchterne Wirklichkeit ...
Drei Gebiete des Seelenlebens beherrscht Schnitzler, um einen
seinem bürgerlichen Beruf, dem ärztlichen, entlehnten Ausdruck zu ge¬
brauchen, als Spezialist: das erotische Gebiet, das innere Verhältnis
des Menschen zum Tod und endlich das in uns allen spukende schau¬
spielerische, genauer: komödiantische Etwas. Es ist seltsam: auf diesen
Dichter, der in allen Nuancen und Spielarten einer gewissen Art ero¬
tischen Empfindens so genau Bescheid weiß, daß einige seiner
höchst wählerischer Lebemänner
zur Lieblingslektüre
Bücher
üben die Heimlichkeiten und Pikanterien
geworden sind,
des Sterbens
schärferen Reiz aus
einen noch
beinahe
als die neuen Entdeckungen, die dem Geschlechtsleben durch subtile
Beobachtung etwa noch abgelauscht werden können. Jeder Seite, die
Schnitzler über Tod und Sterben geschrieben hat, fühlt man's an, daß
da einer redet, der hierin Erfahrung hat. Ich will hiermit nicht etwa
wie dies manche Kritiker zu tun pflegen; nur darauf anspielen, daß
Schnitzler als Arzt vielfache Gelegenheit hat, das Sterben zu studieren,
und daß er die Früchte seines Studiums als Poet verwertet. Nein Schnitzler
kennt das Sterben wie einer, der es selbst erlebt hat, er weiß es
zu schildern wie einer der schon einmal gestorben ist. Ich vermute,
daß er zu jenen Menschen gehört, deren Gedanken, ohne daß ihre
Freunde dies zu bemerken brauchen und ohne daß ihre Stimmung
dadurch getrübt würde, unablässig mit dem unausweichlichen Tod
beschäftigt sind, die sich die Zeit vertreiben, indem sie sich so intensiv
wie möglich in das große Erlebnis des Sterbens hineinzufühlen
suchen, von dem keiner, der es einmal in Wirklichkeit erfahren
hat, Bericht abstatten kann, die jeden Tag etlichemal in der Phantasic
sterben. „Gestorbene“ möchte ich diesen Typus taufen, der häufiger
ist, als mancher ahnt. Nur ein solcher Mensch ist fähig, wie Schnitzler
dies in „Leutnant Gustl“ vollbracht hat, die Gedanken und Stim¬
mungen, die einem jungen, mit heißem Leben überfüllten Menschen in
den wenigen Stunden, die ihn vom unvermeidlichen Ende trennen,
durch Kopf und Nerven gehen, so zu schildern wie Schnitzler, mit
brutaler Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit, sekundenweise, wie
etwas persönlich Empfundenes, so daß er unwillkürlich die erzählende Form
mit dem Monolog vertauschen muß. Nur ein solcher Mensch kann auch
so vertraut sein mit den Wirkungen, die, oft ohne daß wir's selber
wissen, die Gewißheit, daß wir über kurz oder lang sterben müssen,
auf unser ganzes Seelenleben übt, nur er durchschaut, daß der Ge¬
danke an die nahe, unausweichliche Vernichtung unseren Lebensdrang
zum höchsten Grade steigert, daß der Tod die geheime Quelle der
Genußsucht ist, wie schon in der Bibel zu lesen: „Lasset uns essen
und trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot.“ Es ist
sich Wider¬
also keineswegs etwas Abnormes oder gar in
sprechendes, daß dieser Dichter des Todes zugleich mit einem Boccaccio
oder Pietro Aretino in erotischer Kühnheit wetteifert. Der Zeugungs¬
akt und das Sterben verhalten sich nun einmal zueinander wie Kom¬
plementärfarben; wer die eine stark empfindet, muß, ob er will oder
nicht, auch die andere stark empfinden. Dadurch aber sind die ero¬
tischen Dichtungen Schnitzlers auch weit mehr als Nuditäten; der
dunkle Hintergrund des großen Mysteriums, vor dem sie sich ab¬
spielen und dessen unheimliche Nähe man bei Schnitzler immer fühlt,
auch wo er seinen Humor leuchten läßt, adelt sie — beinahe zur Poesie.!
Und dann weiter:
Immer wieder wird an Schnitzler von der Kritik die Aufforde¬
#0p
rung gerichtet, sich dem sozialen Lustspiel großen Stils zuzuwenden.
Er hat ihr bisher nicht entsprochen, obwohl in Wien ein wahrer
Ueberfluß an Lustspielstoff angehäuft ist. Weshalb wohl? Zunächst viel¬
leicht, weil er zu sehr Poet und Lyriker ist, um ganz Satiriker sein zu
können. Die Melancholie, das Erbteil aller tieferen und feineren
Geister in dem angeblich so fröhlichen und gemütlichen Wien, um¬
spinnt auch ihn. Aber um ein Lustspiel, wie man es von ihm
erwartet, schreiben zu können, müßte er vor allem für viele,
sehr viele Dinge und Zustände Sinn und Interesse haben, die
oder doch den Dichter in ihm ganz kalt lassen. Erscheint Auge und Herz
zu haben nur für drei Dinge: fürs Lieben, fürs Sterben und fürs
Komödiespielen. Bei allem Raffinement der Kultur ist er in dieser
Hinsicht fast wie ein Poet des Vormärz. Deshalb, glaube ich, läßt er
die Satiren, die man ihm zutraut, ungedichtet; aber vielleicht ist es
die schärfste und diskreteste Satire auf die geistige Kultur Wiens,
daß ein Kopf wie Schnitzler in einem Zeitalter wie dieses uns von
nichts zu erzählen weiß als vom „süßen Mädel“, vom Sterben und
von der Illusion in allen Formen.
Und seither hat Schnitzler seinen „Jungen Medardus“ ge¬
schrieben und Baron Berger hat ihn aufgeführt.
Wir haben in den letzten Seiten des Buches geblättert,
kehren wir zu den ersten zurück. Erinnerungen an den Vater
Baron Bergers, an Johann Nepomuk Berger, das Mitglied des
Bürgerministeriums. Eine köstliche, ungemein charakteristische
Remtiizen; an #. N. Berarrs Hmmre Man
Baron Berger schreibt:
„. .. wahre Achtung und Zuneigung muß ihm (Greuter) zollen,
wer seine menschliche Persönlichkeit kennen lernt. Diese tritt uns in
den soeben erschienenen Tagebüchern des Tiroler Dichters und Natur¬
forschers Adolf Pichler aufs kräftigste entgegen, Pichler, ein persön¬
licher Freund, aber bekanntlich keineswegs ein Gesinnungsgenosse
wenige
Sterbebett,
Greuters, besuchte diesen auf dem
Tage vor seinem Hinscheiden. Da sagte Greuter ruhig lächelnd zu
ihm: „Weißt du, unser Herr ist ganz anders, als die Leute meinen;
ihm macht das Verdammen keine Freude. Du glaubst gar manches
nicht, was ich glaube, aber du warst dein Lebtag kein Saumagen und
stets gerecht. Ich weiß gewiß, daß wir droben zusammenkommen. Ich
werde dir ein Plätzchen bestellen.
Es lohnt in diesen beiden Bücheru zu blättern, die
der derzeitige Burgtheaterdirektor schrieb, als ec in der Fremde
sich nach der Heimat sehnte ...
m. f.
W