II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 208

mpfr— Nach jedem Einschnilte, wenn nur der Vor¬
hang Miene machte, sich zu senken, wurden die Dar¬
steller und der Dichter gerufen, und Schnitzler dankte
selbst bis zur Erschöpfung. Die Handlung dieser „dra¬
matischen Historie“ ist schwer zu skizzieren. Die Einheit¬
lichkeit der Handlung ist in vielzuvieles Nebenher auf¬
gelöst. Eigentlich sollte das Schauspiel „Medardus und
Helene Valois“ heißen. Denn das Schicksal zweier Men¬
schen wird erzählt, das an starken Fäden nebeneinander
herläuft. Das Vorspiel erzählt das tragische Ende der
Liebe zwischen Agathe und François, dem Sohne des
Thronprätendenten, Herzogs von Valois. Wir sind in
das Jahr 1809 nach Wien versetzt, in die Zeit vor und
nach der Schlacht bei Aspern. Medardus, der Sohn
der Buchhändlerswitwe Franziska Klähr, will des näch¬
sten Morgens als Soldat zum österreichischen Heere ab¬
gehen. In die Lust des Abschiedsfestes bringt man die
Ertrunkenen, seine Schwester und den Franzosen. Me¬
dardus ahnt sofort den Zusammenhang. Jetzt will er
bleiben, um Rache zu üben. Auf diese dramatische Ein¬
leitung folgen die langen Akte des Trauerspiels. Die
beiden Selbstmörder werden begraben. Zwischen den bei¬
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den Familien der Toten kommt es zu einer unerquick¬
lichen Szene. Medardus wird von dem Marquis von
Bakots, dem künftigen Ehegatten Helenens, zum Duell
gefordert. Im zweiten Kampfe erhält Medardus eine
leichte Verwundung; Helene beginnt sich für ihn zu
interessieren. Sie läßt ihm Blumen schicken, es kommt
zu einem nächtlichen Stelldichein, das nur Medardus'
Nache dienen soll. Sein Plan gelingt: er ruft die Schande
Helenens, die er ganz besessen, öffentlich aus. Bis hieher
folgte das Publikum in erwartungsvollster Aufmertsam¬
keit der Handlung. Doch nun verwirrt sich der Knäuel;
Abspannung wird bemerkbar. Wien wird beschossen und
ergibt sich Napoleon. Helene ist dem Marquis von Valois
angetraut. Doch die Abreise der beiden nach Frank¬
reich wird durch eine Einladung an den kaiserlichen Hof
verhindert. Atlanten, deren Besitz der Kaiser unter An¬
drohung der Todesstrafe verboten, werden aus dem
Hause Klähr geschafft und bei dem Sattlermeister Eschen¬
bacher versteckt. Ein Schleicher verrät das Geheimnis,
Eschenbacher wird gefangen abgeführt; vergeblich will
Medardus die Schuld auf sich nehmen. Eschenbacher bleibt
ungerührt und wird tagsdarauf erschossen. Abermals
lodert die Liebe zwischen Helene und Medardus auf. Sie
sucht ihn zu locken; beinahe ist er ihr bereits verfallen,
da bringt ihn der Gedanke seiner persönlichen Würde
wieder zur Vernunft. Die Rache treibt ihn an, den Kai¬
ser zu ermorden. Doch der Zufall schickt ihm Helene in
den Weg und er ersticht sie. Er wird ins Gefängnis ge¬
bracht. Nun hat es sich inzwischen herausgestellt, daß
Medardus — der Retter des Kaisers geworden, da Helene
die Absicht gehabt, Napoleon zu ermorden. Er kann
die Freiheit erhalten, wenn er jede spätere Mordabsicht
gegen den Kaiser abschwört. Medardus weigert sich und
wird füsiliert. Er stirbt „als des Krieges letzter und
seltsamster Held“. Das ist der lange Inhalt der Novi¬
tät. In prächtiger Ausstattung sehr viel Bilder des
1809er Wien. Und Kanonendonner Peloton und Mord
und Tod. Wie immer gehen auch in diesem Schnitzler¬
stücke Liebelei und Sterbelei nebeneinander. Und doch ist!
das neue Stück ein Beweis des großen dramatischen
Könnens Schnitzlers, das diesmal leider die notwendige
Konzentration der Hondlung vermissen läßt. Alle Lei¬
stungen mit Worten zu bedenken, ist bei der großen
Zahl der Darsteller unmöglich. Herr Gerasch spielte den
feurigen Helden Medardus. Doch fehlte dieser Gestalt
die Schärfe der Auffassung, welche vielleicht noch mehr
Unentschlossenheit des Wesens dieses jungen Wieners ver¬
langt hätte. Frau Römpler=Bleibtreu spielte eine
würdige Mutter. Doch der Löwenanteil des Erfolges
dieses Abends gebührt dem Liebreiz des Fräulein Wohl¬
gemut. An ihr haben wir eine Perle für das Burg¬
theater gewonnen, die entzückt und begeistert. Das Burg¬
theater bot eine würdige und vornehme Premiere. Doch
ein ungeheurer Fortschritt, wenn man an die Erstauf¬
führungen des vorigen Jahres erinnert.
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2.9 NOV. 1310
„Der junge Medardus.“
Großer Erfolg Schnitzlers in
Wien. —
Die Promiere des „Jungen Medardus“ ging
Mittwoch unter allen Zeichen einer Sensation vor
sich. Die Wiener Gesellschaft war fast geschlossen
im Burgtheater beisammen. Baron Berger
hatte in den Dienst des personen= und ver¬
wandlungsreichen Stückes fast alle seine Schauspie¬
ler gestellt die sich mit allen Kräften für den Er¬
folg einsetzten. Er blieb schließlich auch nicht aus.
Schon nach dem Vörspiel konnte Regisseur
Thimig für den Dichter danken, nach dem zwei¬
ten und dritten Akt erschien Schnitzler vor der¬
Rampe und wurde äußerst freundlich, wenn auch
nicht enthusiastisch begrüßt. Daß der Beifall nicht
freuetisch war, liegt vielleicht darin, daß das Stückl
keinen Helden hat. Denn der junge Medardus ist
kein Held, er ist nur fähig, sich an Wortklängen zu
berauschen. Die Stärke der Dichtung liegt in der
Zeichnung der Massen, dieser Wiener Bürger ohne
Mark und Galle dieser Schwadroneure und Maul¬
helden. Ihr körperlicher Vertreter ist eben der junge
Medardus.
Aber gerade dort, wo Schnitzler das Wienertum
satirisch geißelt, erklang der Beifall am lautesten.
Aus jedem Worte der Hauptrolle ist ersichtlich, daß
sie für Kainz geschrieben war. Sein Replacant
ist Herr Gerasch. Er bringt für die Rolle sein!
jugendliches Temperament mit, kann aber den psy¬
chologischen Gehalt nicht voll ausschöpfen. Den
Haupterfolg trug Fräulein Wohlgemuth als
Helene von Valois davon. Sie wirkte sowohl durch
ihre ganz hervorragenden äußeren Mittel wie durch
die Diskretion ihres Spieles. Neben ihr stand
Treßler in der Rolle von Medardus' Freund
Etzelt.
Die Ausstattung, besonders die Wiener Szene¬
rien wie die Freitreppe von Schönbrunn gefielen
außerordentlich. Das Zusammens#iel des Ensembles
war glänzend.