II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 239

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Eho der Bühnen
Wien
„Der junge Medardus“. Dramatische Historie
in einem Vorspiel und fünfzig Aufzügen von Artur
Schnitzler. Burgtheater 24. November. (Buch¬
ausgabe bei S. Fischer, Verlin,)
[enn ein Dichter sich einen geschichtlichen Stoff
4 wähit, darf er mit ihm natürlich nach Be¬
lieben schalten. Aber er dürfte dann nicht in
ganz esalten Dingen mit der Geschichte in Witerspruch
geraten, besonders wenn es sich um allgemein
bekannte Dinge handelt. Er türmt der Phantasie
überflüsige Hindernisse. Da ist Napoleon und das
Wien von 1809. Real, eristent. Da ist der Hof
des Herzogs von Valvis und der junge Medardus.
Sind sie Dichtung? Wären sie es ausschließlich, das
Malheur wäre nicht groß. Bei siebzig Neben¬
gestalten empfinden wir ja auch keinen Widersinn.
Aber in den Valois und in Medardus erkennt man
ein Fragment Geschichte, nur ganz verzwittert und
entstellt. Die Valois waren im Jahre 1809 längst
ausgestorben, und auf die Krone, die Napoleon
trug, erhoben die Bourbonen Anspruch. Bei Schnitz¬
ler lebt noch ein Valois und hält sich für Frank¬
reichs rechtmäßigen König. Er lebt bei Wien, etwa
wie der letzte Chambord, der aus dem Lilienhause
stammte. Wozu diese Brüskierung der Geschichte?
Die Phantasie kollidiert mit dem realen Wissen
Daß der junge Medardus durch den jungen deut¬
schen Schwärmer Stapß angeregt wurde, ist auf
den ersten Blia klar. Stapß stürzte sich zu Schön¬
brunn auf Napoleon, um ihn zu erdolchen. Medar¬
dus plant auch das Attentat, will der Vaterlands¬
befreier sein. Doch er sticht schließlich die Prinzessin
von Valois nieder, nicht den Kaiser Napoleon. Der
Verstand weiß, daß dieses Attentat nicht stattfand,
wohl aber das andere auf den Kaiser. Er hängt sich
an die Phantasie und zerrt sie nieder. Welch ein
Quantum von Einbildungskraft wird verbraucht, um
die Toten, die hier agieren, noch lebendig zu glauben,
um ein geplantes Attentat für vollzogen zu halten.
Die Lizenzen des Dichters seien unbeschränkt. Doch
sie unbeschränkt auszunützen, heißt mit den Energien
der Phantasie schlechte Wirtschaft treiben.
Medardus, einer Bürgerswitwe junger Sohn,
ist bereit, gegen die Franzosen zu ziehen, soldatischen
Ruhm zu suchen. Da begeht seine Schwester, von
einem Prinzen von Valois entehrt, Selbstmord in
der Donauflut. Medardus will seine Schwester
rächen. Aber der Prinz ging mit ihr in den Liebes¬
tod, und so ist das Rachegefühl ein Hadern mit
dem Wind, ein Schuldiger ist nicht mehr da. Dennoch
beleidigt Medardus des Prinzen Schwester am
Grabe der Selbstmörder. Die Folge ist zunächst, daß
er sich schlagen muß und verwundet wird, und dann
daß die Prinzessin, von seinem jungmännlichen Zorn
angezogen, ihn begehrt. Daß er, obwohl sie sich
mit ihrem Vetter eben verlobt, eine Nacht bei ihr
verbringen kann, mit dem verteufelten Plan, ihre
Schande am Morgen öffentlich preiszugeben. Die
Prinzessin hat ihn mit ververser Flamme umfangen
und er zergeht darin wie Wachs. Nichts wird mehr
aus Feldzug und vaterländischer Begeisterung. Da
rüttelt ihn immerhin die Hinrichtung eines tapferen
Oheims auf. Wie betäubt wirft er sich auf den
Plan, Napoleon zu ermorden, um der Welt die
Freiheit zu gewinnen. Auch die Prinzessin hat dies
eine Ziel: Napoleons Tod, damit die Valois wieder
ihren Thron besteigen. Sie weiß, daß Medardus
noch stärker hassen kann als lieben, und versucht
ihn für die Tat zu nützen. Er aber sieht nun das
Werk einem persönlichen Zweck untergeordnet und
dadurch befleckt. So weigert er die Tat. Als die
Prinzessin jedoch selbst die Treppe zu Napoleon
hinaufsteigt, von den Wienern als des Kaisers Ge¬
liebte ausgerufen, in Wirklichkeit eine Judith, die
sich zu Holofernes begibt, sticht Medardus voll Eifer¬
sucht sie nieder. Er soll als Retter des Kaisers
begnadigt werden, nimmt die Gnade nicht an, gesteht
vielmehr den eigenen Mordplan ein und wird er¬
schossen.
Ein Held ist Medardus trotz der letzten trotzigen
Wallung nicht. Gott wollte ihn, wird gesagt, zum
Helden schaffen, der Lauf der Dinge aber machte
einen Narren aus ihm. Damit wäre natürlich seine
ganze Zerfahrenheit, Planiosigkeit, Willensschwäche
Als dramatische Begründung und
entschuldigt.
Pauschalpsychologisierung kann die Bemerkung leider
nachträglich nicht gelten. Man sieht ihm fünf
Stunden zu. wie er immer auflodert und gleich darauf
umgeblasen wird, wie er immer irgendeine „Tat“
rüstet, und sich sie (von seiner eigenen Dialektik) weg¬
eskamotieren läßt, und wie er am Ende einen ver¬
geblichen Tod stirbt. Man sucht in seinem Flatter¬
leben einen hamletischen Sinn, um schließlich die
bitter=skeptische Auskunft zu erfahren, daß alles eitel
Narretei war. Medardus ist ja nicht ein pathologischer
Narr, sondern ein Mensch, der sich an der Geste
berauscht, der sich Taten ausphantasieren kann und
sie vorkostet, aber damit auch schon entwertet, ein
empfindsamer und vielspältiger Geist mit den
Hemmungen aller Spitzfindigen. Unwürdig, im
Mittelpunkt der Ereignisse zu stehen. Eigentlich tut
er dies auch gar nicht, ist nur Episodenfigur in dem
ungeschriebenen Drama, das sich zwischen Napoleon
und der Prinzessin abspielt und viel klarere Motive
hat. Die Perspektive ist falsch, die Medardus zur
Hauptgestalt erhebt. Oder wollte Schnitzler einfach
die Tragödie eines der zahllosen Unbekannten dich¬
ten, die durch die vaterländische Erregung der
Napoleonkriege manchmal zu Helden wurden, manch¬
mal nur fieberhafte heroische Allüren annahmen?
Medardus hat nur die Allüre. Schnitzlers lächelnder
Pessimismus wird wohl niemals einen kämpferischen
Helden gebären. Er schafft seitdem Anatolskeptiker,
die ihre Seele zerpflücken und voll Melancholie sind,
weil sie nicht Stärke und Elan haben, sich dem tätigen
Leben hinzuwersen. Sie möchten es gern, aber sie
schauern vor jeder Brutalität zurück. Sie lieben ihre
Pläne, aber sie fürchten ihre Realisierung. Lauter
Menschen ohne Konsequenzen. Helden von unzweifel¬
haft zeitgemäßer Struktur, aber keine nationalen
Ideale, und Medardus mit der heroischen Allüre
fordert zur Tragikomödie heraus.
In der Handlung steckt eine Portion Sardon,
das wird niemand leugnen. Gewiß, durchaus ver¬
schnitzlert, duftiger, sensibler, aphoristischer geworden.
Oelikate Dichterhände haben einen viel zu umfang¬
reichen und pittoresken Stoff aufgebaut und ein
Volk von Gestalten geformt. Dies gelang besser als
jenes. Die Wiener Menschheit rennt herbei und
besieht sich im Spiegel dieser Dichtung; alle
ihre
Typen sind darin scharf gezeichnet und vielfach
mit
witzigem Spott verzerrt abgebildet. Der Hof von
Valois, ganz Dichtung, empfängt in seiner Zu¬
sammensetzung das wahrscheinlichste Leben. Da ist
der alte blinde Herzog, der in seinem Exil königlich!
einherschreitet, eine Herrlichkeit, die ihr Verblassen
weder merkt noch eingestehen würde; seine Tochter,
die Prinzessin, die die phantastische Fiktion des Thron¬
anspruchs mit einem maßlos herrischen Stolz aufrecht
erhält und von ruchloser Lüsternheit ist; und all die
Getreuen und Ungetreuen, eine Welt für sich, eine
Travestie mit der feierlichsten, ernstesten Miene. Da#
ist aber auch das vormärzliche Wien mit seinen an¬
mutigen Interieurs, seinen Basteien, seinen Vorstadt¬
gärten: Schnitzler hat seine weiche Luft erwittert,
seine abgetönten Farben erhascht und es hingestellt
mit dem ganzen intimen Zauber, den wir an den
altwiener Stichen lieben.
Camill Hoffmann