II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 263

terisch bedeutet „Der junge Medardus“ einen Versuch, keinen Fort
schritt; die nächste Komödie Schnitzlers „Das weite Land“ dürfte
einen Bühnenerfolg bringen, der beim Kenner, nicht nur dem Mas¬
senzulauf Zustimmung finden wird. Ein stilisiertes Volksstück
möchte „Der junge Medardus“ sein, wie ja „Liebelei“ ursprünglich
auch als Volksstück gedacht war (den ersten, in einer Wiener Tanz¬
schule spielenden Akt dieser Ur=Fassung hat Schnitzler vor ein paar
Jahren in einem Sammel=Band drucken lassen). Wohlberaten ging
er späterhin von diesem ersten Entwurf der „Liebelei“ ab. Dem
„jungen Medardus“ hätte ähnliche Entsagung, knappere Zusammen¬
fassung nicht weniger genützt. In ihrer gegenwärtigen Gestalt ist
diese „dramatische Historie“ zwiespältig. Allerliebste Schilderungen
des Wienertums aller Grade vom kernigsten Schlag bis zu den win¬
digsten „Früchteln“ und erbärmlichsten Gesinnungs=Lumpen zeigen,
wie gut Schnitzler nicht nur die süßen Mädeln, sondern seine ganze
engere Landsmannschaft kennt. Sie hat sich in ihren Hauptelemen¬
ten von 1809 bis 1909 nicht allzustark verändert. Schade, daß der
Dichter neben diese Wiener und Wienerinnen echten Gepräges einen
Wirrkopf stellt, einen jungen Buchhändlerssohn, der als vermeint¬
licher Rächer einer verführten Schwester die Tochter eines verbann¬
ten französischen Herzogs zu seinem Schicksal macht. Er will die
seiner Familie widerfahrene Unbill durch Entehrung der Prinzessin
heimzahlen. Die hohe, auch in Eroticis souverän denkende und
handelnde Dame gönnt Medardus, den sie zuerst am Grab seiner
ins Wasser gegangenen Schwester in zorniger Aufwallung gesehen,
wohl in ihrem Schlafgemach les dernières faveurs: zum Gatten
wählt sie aber einen pfeudonymen Thron=Prätendenten, von dem
sie erwartet, daß er Napoleon aus der Welt schaffen wird. Und
da dieser Mordanschlag mißglückt, will sie selbst dem Corsen in
Schönbrunn ein Holofernes=Schicksal bereiten. Ein Abenteuer,
das Medardus falsch auffaßt und durch Erdolchung der Prinzessin
zu jähem Ende führt. Das grasse Zwischenspiel bedeutet zugleich
das Ende seiner eigensten Attentatspläne: Medardus, Romeo, Laertes
und Hamlet in einer Person, hatte überdies vor, die Welt vom Un¬
geheuer Napoleon zu befreien. Ein Vorhaben, das der Kaiser —
wie in Wirklichkeit einem Schwärmer, dem Studenten Staps —
amnestieren würde, sofern Medardus nur verheißen wollte, für die
Zukunft von ähnlichen Mordgedanken abzulassen. Medardus lehnt
das ungeachtet aller milden Einreden des Generals Rapp rundweg
ab. Folge: Hinrichtung durch Pulver und Blei.
Hätte Napoleon den Medardus Schnitzlers aus eigener An¬
schauung gekannt, wie der Theatergänger — er hätte ihn getrost frei
herumlaufen lassen dürfen. Dieser Tyrannen=Mörder wird beson¬
ders wohlgewachsenen, wohlredenden Schönen auf die Dauer nicht
widerstehen.. Wer für den echten Schnitzler ’was übrig hat,
tut ihm nicht unrecht, wenn er vom unechten, das heißt: dem un¬
möglichen Roman Medardi mit der Prinzessin Valois, nichts hören
will. Talent, sehr feine Einzelzüge, starker Sinn für kräftige
Bühnenwirkungen fehlen auch nicht in der Charakteristik der Prä¬
tendentengruppe und den Wortführern Napoleons. Am ganzen
Medardus bleibt gleichwohl nur die Charakteristik des Wienertums
zu rühmen. Allerdings ist das kein Kleines. Neben den Durch¬
schnitts=Lokal = Humoristen, den empfindsamen und satirischen Wie¬
ner Genre=Feuilletonisten nehmen sich Grillparzer und Anzen¬
gruber im „Armen Spielmann“ und „Vierten Gebot“ aus, wie der
Ortler neben dem Kahlenberg. In angemessenem, will sagen: sehr
hoch gemessenem Abstand gebührt auch Schnitzler neben diesen grö߬
ten Sittenschilderern des Wienertums ein Vorzugsplatz, angesichts
der Kleinmeister. Ganz preisgeben muß den Medardus nicht, wer
die Hauptsache — den Charakter des Medardus und der Prinzessin
als Mißgriff abweist.
Das Burgtheater tat und wirkte Wunder. Ausstattung
und Darstellung werden von keiner zweiten Bühne Deutsch¬
lands erreicht oder übertroffen werden. Die Prinzessin wurde
durch Fräulein Wohlgemuth eine unvergeßbare Gestalt. Me¬
dardus' Mutter und Oheim fanden in Frau Römpler=Bleib¬
treu und Herrn Balajthy Dolmetscher, die den ersten Kräften
des alten Burgtheaters ebenbürtig waren. Das Wienertum
aller Arten gewann durch, die Herren Korff, Baumgartner,
Sommer, Heller, Straßny, Moser Farbe, Fleisch und Blut.
Als Offiziere Napoleons taten sich Reimers und Gimnig so
tüchtig hervor, wie Hartmann, Heine, Löwe, Frl. Hönigswald und
Frl. Hofteufel im Legimitistenkreise und der bedeutende Charakter¬
spieler Arndt in der von Schnitzler mit Liebe und Schärfe gezeich¬
neten Gestalt eines Arztes, der vom Krankenbett eines durch seine
Kunst geretteten Kindes, das ein Dutzend Geschwister hat, den
Todeskeim seinem einzigen Kinde heimbringt. Schon diese eine
Figur würde genügen, Schnitzler als schöpferischen Dramatiker zu
Anton Bettelheim.
beglaubigen.
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burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewäbr.)
Ausschnitt aus: ##r os-de
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en erenen ter een
LA JAIGON THEATRALE ALETRANGER
Les Théätres de Vienne
Par M. Stanislas RZEWUSKI
gantesque, qui comporte de nombreux tableaus
La première représentation d’une cuvre nou¬
et près d’une centaine de personnages, sans park.
velle d’Arthur Schnitzler esttoujours un évé¬
ler d’une figuration digne du Meininger. La réa¬
nement litteraire important, mais celle du Jeune
lisation dramatique du Jeune Medard est une
Médurd, le récent ouvrage du célebre drama¬
turge viennois a pris les proportions d’une vé¬
sorte de chief-d’cuvre. Jamais, mème au tempf
ritable solennité artistique. C’est l’événement du
le pluis prospère de cette célèbre compägnick
jour, le succès du moment dans la noble et
mème sous la direction Wilbrandt, l'auteur der
ces lignes, qui admira cependant tant de mer¬s
charmante cité du Danube bleu. Les autres ma¬
veilles au Burg, n’y vit jamais rien d’aussi par¬
nifestations de la vie théätrale toujours si animée
fait, d’aussi complet. L'art dramatique ne va pas
Vienne, s’effacent devant l’éclat et le reten¬
au-dela — c’est la perfection méme. Comment
tissernent de cette grande première. Elle a en
ne pas comprendre l’empressement du public
lieu au Burg Teater qui est sans aucun doute le
meilleur théätre littéraire en Autriche, une ins¬
qui assiege littéralement le théätre de la Cour à
chaque représentation. L’ceuvre remarquable de
titution sans rivale, la seule peut-être en Europe
qui puisse étre comparée à notre Comédie-Fran¬
Schnitzler n’est pas seulement l’événement litté¬
çaise
raire de l'année dans les pays germaniques, c’est
aussi le spectacle le plus grandiose et lé plus in¬
Arthur Schnitzler est considéré comme le plus
teressant de la saison fätrale en Europe. Et ce¬
Fremarquable auteur dramatique aufrichien de ce
pendant la piece dure près de cing heures — tou¬
temps-ci; c’est à la fois un grand écrivain et un
te la troupe du Burg y est occupée. Le fait es
dramaturge d’un mérite hors ligne.
peut-être suns précédent dans les annales di
M. Sehnitzler, dans cette tentative assez im¬
rhéätre à Vienne.
prévue, procède directement de l’esthétique de
STANISLAS RZEWUSKI.
Shakespeare, maitre suprème de la dramaurgie
miverselle.
Le jeune Médard — titre d’un romantisme
un peu puéril, suranné et voulu — n'est qu'une
longue suite d’épisodes dont l’ensemble aboutit
à l’évocation précise du passé. L'autéur y aspire
une synthèse embrassant toutes les conditions
de la vie humaine, le conflit de tous les intérets,
de toutes les illusions de ce monde d’apparences,
u tout change et se transforme.
La piece de M. Arthur Schnitzler présente au
point de vue strictement théätral d’immenses dif¬
ficultés — la direction et les artistes du Burg les
ont toutes surmomtées, victorieusement. La mise
en scène et l’interprétation de cette... épopée gi¬