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22. Derjunge-Medandus
neran
konzessionirtes
Bureau
für Zeitungsnachrichten
Wien, 1.
Konkordlaplatz *
4 12. tssbeus Freis Presss.
## 1
[Die Bücher der Saison.] Deutschland im Vorder
kreffen. Das ist die Signatur des Literaturjahres, das zur
Neige geht, und dessen Bilanz wir nach hergebrachter Art an
dieser Stelle zu ziehen versuchen in den Tagen, durch deren
Winternebel die Lichter des Weihnachtsbaumes bereits in nicht
allzuweiter Ferne schimmern. Wieder haben wir uns beim
Buchhändler und beim Leihbibiliothekar umgetan, und
neuerdings sind wir unseren erprobten Beratern, Herrn Fried¬
rich Schiller, dem Chef der Hofbuchhandlung Perles, und dem
Inhaber des Lasischen Literaturinstituts, Herrn Ludwig Last,
zum aufrichtigen Dank verpflichtet. Unsere Experten stimmen
darin überein: Ein früchtereiches, ein bemerkenswertes Lite¬
raturjahr. Man darf sich nicht abschrecken lassen durch die
stosende Sintstut der Neuerscheinungen. Strandgut schleppt sie
mit sich in beängstigender Fülle; aber mitten darunter
erlesene Werke von bleibendem Werte, oder wenn man vor¬
sichtiger sein will, Bücher zum mindesten, die den Epigonen
Zeugnis ablegen werden von den Irrungen und Wirrungen
der Gegenwart, von geistigen Kämpfen innerlicher Art, die
abseits vom Schauplatz eines immer gigantischere Formen an¬
nehmenden Ringens um materielle Daseinsgüter ausgetragen
werden. Deutschland im Vordertreffen! Mehr als ein Menschen¬
alter ist soit der politischen Wiedergeburt der deutschen Nation
verflossen, ein Zeitraum in dem der Deutsche sich auf techni¬
schem und naturwissenschaftlichem Gebiete um die Weltführer¬
schaft mühte. Jetzt scheinen sich die stärksten geistigen Kräfte
nach anderer Richtung anzuspannen. In der schönen Litera¬
tur, um diesen Terminus beizubehalten, eist Deutschland und
Deutschesterreich gegenwärtig beinahe rivalenlas. Die große
Epoche der französischen Romankiteratur ist vorüber, Italiens
Ruhm steht auf den zwei Augen d'Annunzios, England
weiß Oskar Wilde, geschweige den Klaffikern seiner Erzähler¬
literatur keinen Nachfolger und weder der russische, noch der
slandinavische Norden vermag heute mit uns zu wetteifern.
Der deutsche Roman ist ein ganz anderer als der Roman
Frankreichs, der die letzte Generation beinahe widerspruchslos
beherrschte. Er räumt der Erotik nur ein Hinterzimmer ein, ist
ein männlicher Roman, voll saustischer Zweifel und hamlet¬
scher Seelenkämpfe. Er rührt an das Höchste und an das
Tiesste, er leitet seinen Stammbaum sozusagen von Martinus
Luther her, und mehr als einer von denen, die ihre Selbst¬
beichten in Romanbänden verrichten, mahnt an das Wort
des Wittenberger Gottesmannes: „die etlich mal sich mit der
Sünd und Tob geraust und gefressen, oder mit dem Teusel
gebissen und gekämpft haben“. Zu diesen männlichen Ro¬
manen, die uns als Böcher der Saison bezeichnet werden,
zählt Gerhart Hauptmanns „Emanuel Quint“, der in der
Buchausgabe den bezeichnenden Titel „Der Narr in Christo“
erhalten hat. Eine Modernisierung des Wiedertäuferproblems,
die im Zusammenhalt mit Hermann Bahrs „O Mensch!“ in
sinnreicher Weise über den Gegensatz zwischen norddeutschem
und süddeutschem Empfinden belehrt. Zu den Entwicklungs¬
romanen, die das Literaturjahr kennzeichnen zählt auch Panl
Ernsts „Der schmale Weg zum Glück“, ein Buch, dessen Held
gleich Hauptmanns Quint und Bahrs Nußmenschen aus¬
zieht, Gott in allem Lebendigen zu suchen, und ihn findet
weil Gott von jeher in ihm war. In diese Reihe männliche
Werke möchten wir auch Hermann Hesses „Gertrud“ ein
schließen, die jüngste Arbeit dieses Menschengestalters, der sich
innig an Keller reiht und an Theodor Storm, dessen Werke
eine neue billige Gesammtausgabe erfahren haben und zu
den Büchern der Saison zählen. Dieser Umstand spricht min¬
destens ebensoviele Bände für den Geschmack des Publikums,
ffür dessen Läuterung und Sicherheit Buchhändler und Leih¬
bibliothekar vollgiltige Zeugen sind. Die Zahlen, die uns Herr
Last zur Verfügung steklt, ehren ganz besonders das Wiener
Publikum, das Modebeliebtheiten gegenüber eine ganz merk¬
würdig anmutende, kulturreise Zurückhaltung an den Tag
legt und nur dort viekleicht gelegentlich Seitenwege ein¬
schlägt, wo sich der Lokalpatriotismus als Wegweiser dar¬
bietet. Im Vordergrunde der Gunst des Wiener Publikums
stand heuer das schöne Märchen= und Parabelbuch „Spät¬
sommer“, das uns Marie Ebner=Eschenbach geschenkt hat.
Ihm reihten sich die „Bittersüßen Liebesgeschichten“ von Rudolf
Bartsch an, von denen uns Herr Last erzählt, die hundert¬
fünzeig Exemplare, die er davon in seinem Institut aufge¬
22. Derjunge-Medandus
neran
konzessionirtes
Bureau
für Zeitungsnachrichten
Wien, 1.
Konkordlaplatz *
4 12. tssbeus Freis Presss.
## 1
[Die Bücher der Saison.] Deutschland im Vorder
kreffen. Das ist die Signatur des Literaturjahres, das zur
Neige geht, und dessen Bilanz wir nach hergebrachter Art an
dieser Stelle zu ziehen versuchen in den Tagen, durch deren
Winternebel die Lichter des Weihnachtsbaumes bereits in nicht
allzuweiter Ferne schimmern. Wieder haben wir uns beim
Buchhändler und beim Leihbibiliothekar umgetan, und
neuerdings sind wir unseren erprobten Beratern, Herrn Fried¬
rich Schiller, dem Chef der Hofbuchhandlung Perles, und dem
Inhaber des Lasischen Literaturinstituts, Herrn Ludwig Last,
zum aufrichtigen Dank verpflichtet. Unsere Experten stimmen
darin überein: Ein früchtereiches, ein bemerkenswertes Lite¬
raturjahr. Man darf sich nicht abschrecken lassen durch die
stosende Sintstut der Neuerscheinungen. Strandgut schleppt sie
mit sich in beängstigender Fülle; aber mitten darunter
erlesene Werke von bleibendem Werte, oder wenn man vor¬
sichtiger sein will, Bücher zum mindesten, die den Epigonen
Zeugnis ablegen werden von den Irrungen und Wirrungen
der Gegenwart, von geistigen Kämpfen innerlicher Art, die
abseits vom Schauplatz eines immer gigantischere Formen an¬
nehmenden Ringens um materielle Daseinsgüter ausgetragen
werden. Deutschland im Vordertreffen! Mehr als ein Menschen¬
alter ist soit der politischen Wiedergeburt der deutschen Nation
verflossen, ein Zeitraum in dem der Deutsche sich auf techni¬
schem und naturwissenschaftlichem Gebiete um die Weltführer¬
schaft mühte. Jetzt scheinen sich die stärksten geistigen Kräfte
nach anderer Richtung anzuspannen. In der schönen Litera¬
tur, um diesen Terminus beizubehalten, eist Deutschland und
Deutschesterreich gegenwärtig beinahe rivalenlas. Die große
Epoche der französischen Romankiteratur ist vorüber, Italiens
Ruhm steht auf den zwei Augen d'Annunzios, England
weiß Oskar Wilde, geschweige den Klaffikern seiner Erzähler¬
literatur keinen Nachfolger und weder der russische, noch der
slandinavische Norden vermag heute mit uns zu wetteifern.
Der deutsche Roman ist ein ganz anderer als der Roman
Frankreichs, der die letzte Generation beinahe widerspruchslos
beherrschte. Er räumt der Erotik nur ein Hinterzimmer ein, ist
ein männlicher Roman, voll saustischer Zweifel und hamlet¬
scher Seelenkämpfe. Er rührt an das Höchste und an das
Tiesste, er leitet seinen Stammbaum sozusagen von Martinus
Luther her, und mehr als einer von denen, die ihre Selbst¬
beichten in Romanbänden verrichten, mahnt an das Wort
des Wittenberger Gottesmannes: „die etlich mal sich mit der
Sünd und Tob geraust und gefressen, oder mit dem Teusel
gebissen und gekämpft haben“. Zu diesen männlichen Ro¬
manen, die uns als Böcher der Saison bezeichnet werden,
zählt Gerhart Hauptmanns „Emanuel Quint“, der in der
Buchausgabe den bezeichnenden Titel „Der Narr in Christo“
erhalten hat. Eine Modernisierung des Wiedertäuferproblems,
die im Zusammenhalt mit Hermann Bahrs „O Mensch!“ in
sinnreicher Weise über den Gegensatz zwischen norddeutschem
und süddeutschem Empfinden belehrt. Zu den Entwicklungs¬
romanen, die das Literaturjahr kennzeichnen zählt auch Panl
Ernsts „Der schmale Weg zum Glück“, ein Buch, dessen Held
gleich Hauptmanns Quint und Bahrs Nußmenschen aus¬
zieht, Gott in allem Lebendigen zu suchen, und ihn findet
weil Gott von jeher in ihm war. In diese Reihe männliche
Werke möchten wir auch Hermann Hesses „Gertrud“ ein
schließen, die jüngste Arbeit dieses Menschengestalters, der sich
innig an Keller reiht und an Theodor Storm, dessen Werke
eine neue billige Gesammtausgabe erfahren haben und zu
den Büchern der Saison zählen. Dieser Umstand spricht min¬
destens ebensoviele Bände für den Geschmack des Publikums,
ffür dessen Läuterung und Sicherheit Buchhändler und Leih¬
bibliothekar vollgiltige Zeugen sind. Die Zahlen, die uns Herr
Last zur Verfügung steklt, ehren ganz besonders das Wiener
Publikum, das Modebeliebtheiten gegenüber eine ganz merk¬
würdig anmutende, kulturreise Zurückhaltung an den Tag
legt und nur dort viekleicht gelegentlich Seitenwege ein¬
schlägt, wo sich der Lokalpatriotismus als Wegweiser dar¬
bietet. Im Vordergrunde der Gunst des Wiener Publikums
stand heuer das schöne Märchen= und Parabelbuch „Spät¬
sommer“, das uns Marie Ebner=Eschenbach geschenkt hat.
Ihm reihten sich die „Bittersüßen Liebesgeschichten“ von Rudolf
Bartsch an, von denen uns Herr Last erzählt, die hundert¬
fünzeig Exemplare, die er davon in seinem Institut aufge¬