II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 270


beherrschte. Er ränmt der Erotik nur ein Hinterzimmer ein, ist
ein männlicher Roman, voll saustischer Zweifel und hamlet¬
scher Seelenkämpfe. Er rührt an das Höchste und an das
Tiesste, er leitet seinen Stammbaum sozusagen von Martinus
Luther her, und mehr als einer von denen, die ihre Selbst¬
beichten in Romanbänden verrichten, mahnt an das Wort
des Wittenberger Gottesmannes: „die etlich mal sich mit der
Sünd und Tod gerauft und gefressen, oder mit dem Teusel
gebissen und gekämpft haben". Zu diesen männlichen Ro¬
manen, die uns als Bächer der Saison bezeichnet werden,
zählt Gerhart Hauptmanns „Emanuel Quint“, der in der
Buchausgabe den bezeichnenden Titel „Der Narr in Christo“
erhalten hat. Eine Modernisierung des Wiedertäuferproblems,
die im Zusammenhalt mit Hermann Bahrs „O Mensch!“ in
sinnreicher Weise über den Gegensatz zwischen norbdeutschem
und süddeutschem Empfinden belehrt. Zu den Entwicklungs¬
romanen die das Literaturjahr kennzeichnen zählt auch Pan
Ernsts „Der schmale Weg zum Glück“, ein Buch, dessen Held
gleich Hauptmanns Quint und Bahrs Nußmenschen aus
zieht, Gott in allem Lebendigen zu suchen, und ihn findet
weil Gott von jeher in ihm war. In diese Reihe männliche
Werke möchten wir auch Hermann Hesses „Gertrud“ ein
schlloßen, die jüngste Arbeit dieses Menschengestalters, der sich
innig an Keller reiht und an Theodoi Storm, dessen Werke
eine neue billige Gesammtausgabe erfahren haben und zu
den Büchern der Saison zählen. Dieser Umstand spricht min¬
destens ebensoviele Bände für den Geschmack des Publikums,
für dessen Läuterung und Sicherheit Buchhändler und Leih¬
bibliothekar vollgiltige Zeugen sind. Die Zahlen, die uns Herr
Last zur Verfügung stellt, ehren ganz besonders das Wiener
Publikum, das Modebeliebtheiten gegenüber eine ganz merk¬
würdig anmutende, kulturreise Zurückhaltung an den Tag
legt und nur dort vielleicht gelegentlich Seitenwege ein¬
schlägt, wo sich der Lokalpatriotismus als Wegweiser dar¬
bietet. Im Vordergrunde der Gunst des Wiener Publikums
stand heuer das schöne Märchen= und Parabelbuch „Spät¬
sommer“, das uns Marie Ebner=Eschenbach geschenkt hat.
Ihm reihten sich die „Bitterfüßen Liebesgeschichten“ von Rudolf
Bartsch an, von denon uns Herr Last erzählt, die hundert¬
fünzzig Ezomplare, die er davon in seinem Institut aufge¬
stellt hat, zirkulieren fortwährend und finden nur den Rück¬
weg auf den Kohlmarkt, um sofort neuerdings die Wander¬
schaft anzutreten. Einer der größten Erfolge der Saison war
die Buchausgabe von Schnitzlers „Medardus“ von dem ein
Tausend das andere ablöst; am Tage der Burgtheater¬
première wurde das fünfte gebruckt. Von Wiener und öster¬
reichischen Antoron seien ferner Jakob Wassermann, mit
seinen, unseren Lesern bekannten „Die Masken Erwin
Reimers“ dann Greinz' „Allerseelen“ und Ertls „Nachdenk¬
liches Bilderbuch“ genannt. Das Biedermeierkostüm versagt
auch im Roman nicht; Beweis dessen Harts (Walter von
Molos) „Liebesmusik“ ein Buch, durch das Beethoven
schreitet und aus dessen Seiten die sonnenbestrahlten Reben
Grinzings und Sieverings winken und locken. In Karl
Rosners „Herr des Todes“ sucht das Publikum freilich ohne
allzu großen Erfolg nach den psychologischen Feinheiten der
silbernen Glocke“, jenes starken und innigen Werkes, das wir
im vergangenen Jahre unter den Büchern der Saison preisen
dursten, und auch spezifisch berlinerisch angehauchte Bücher,
so „Kubinke“ Georg Hermanns, des „Jettchen Gebert“=Ver¬
fassers, neuestes Buch, und Klara Biebigs „Die vor den
Toren“, haben bei uns desgleichen starkes Interesse gefunden.
Hält man Umfrage nach der Geschmacksrichtung des Publi¬
kums, so wird einem die Auskunft zu teil, daß die Roman¬
lektüre überhaupt zu Gunsten der ausgesprochenen Bevor¬
zugung kritischer und essahischer Werke in den Hintergrund
tritt. Es zeigt sich eine Abwendung von dem pretiösen Stil,
den man als einen Rückschlag nach den Naturalisten werten
mag, und die ausgesprochene Schätzung der klaren, schönen,
kräßtg schlichten Form. Der buchhändlerische Erfolg der
Speidel-Schriften ist ein schlagender Beweis für die Wahrheit
des Satzes, der angesichts seine) offenen Sarges nieder¬
geschrieben wurde: „Speidels Aufsätze sind ein notwendiges
Stück des deutschen Schriftturgs und gehören zum Bestand
der deutschen Sprache wie die kritischen Aufsätze Lessings.“
Alfred Freiherr v. Berger het uns neben seiner ham¬
burgischen Dramaturgie in einer zweibändigen Aufsatz¬
ssammlung „Buch der Heiraat“ eines der inhaltsreichsten
Ein leidenschaftliches
Bücher der Saison geschenkt.
Interesse bei Freund und Feind, wie es die scharf¬
umrissene Physiognomie des Autors heischt, haben Maximilian
Hardens „Köpse“ hervorgerufen, die Jugend aber, der
glühende Bewunderung genügt und die noch nicht die Wollust
des Hasses kennt, hat in Roosevelts Afrikowanderungen
ihr Standard work gefunden. Und zum erfreulichsten Ab¬
schluß dieser gedrängten Revue: Die Klassiker sind recht eigent¬
Uch die Autoren der Saison, Propyläen= Pantheon=, Tempel-,
Helios-Ausgabe. Diese Bücher werden nicht nur gelesen, son¬
St—K.
dern auch gekauft!
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„ODSERTER
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burg, Toronto.
(Ouelenengabe ehne Gowühr.
Ausschnitt aus:
Humoristische Blatter, Wien
vom: 1. 1910
Theater.

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S


Arthur Schnitzlermußte endlich
D
daß große Drama schreiben, welches Öster¬
reich im allgemeinen und daß Burg¬
theater im besondern von ihm erwartete,
und so griff er zum einfachen Mittel, eine
große wildbewegte Zeit für sich sprechen zu
lassen. Unsere heutigen Dichter haben eine
zu zierliche Tournüre, sind von zu geleckter
Eleganz, um eine kraftvolle Handlung zu
ersinnen und vernünftig zu Ende zu führen.
So flüchten sie sich, wenn sie erschüttern
sollen, entweder à la Hoffmannsthal
in die Greuel der griechischen Tragödie
oder à la Schnitzler in die Schrecken der
napoleonischen Zeit. Das Jahr 1809 war
so wild bewegt, daß es auf einige dramati¬
sche Todesfälle mehr nicht ankommt und so
läßt Schnitzler Mord und Selbstmord
in einem überraschenden Perzentsatz unter
den Personen seines Dramas aufräumen.
Zum Schlusse hat der Regisseur vor allem
die Toten wegzuräumen, damit der Autor
nicht über Leichen dem Hervorruf Folge leisten
muß. Also im „jungen Medardus“
hat Schnitzler viel für die Sterblichkeit
aber nichts för seine Unsterblichkeit getan,
Die große öster eichische Tragödie wird wohl
einmal ein anderer schreiben, nämlich Karl
Schönherr, merkwürdigerweise Arzt auch
und Dichter dazu wie Schnitzler. Aber
Schönherr scheint eher der richtige Arzt
für das kranke Burgtheater zu sein.