II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 289

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22. Der junge Medandus
wenn man nicht die fünf Stunden der Darstellung im von seinem Plane abgebracht, sich den Franzosen entgegen¬
zuwersen. Rachegedanken anderer Art steigen in ihm auf.
Theater verleben kann. Übrigens enthält der Dialog viele
Viener Brief
Er will an den Valois die seiner Familie zugefügte Schande
Feinheiten, die in der Kulissenwelt erdrückt werden und
— Glaube und Heimat — Wohnungsnot —
und das schwere Unglück sühnen. Aber das Schicksal be¬
bei denen der Leser um so dankbarer verweilt.
Christkindelmarkt)
stimmt es anders: Medardus gerät zunächst in die zarten
Der junge Medardus führt uns in das Wien des
Netze der schönen Tochter des blinden ehemaligen Herzogs.
Wien, Ende November 1910
Jahres 1869. Wir erleben die Franzosenzeit mit allen
Nicht kopflos, planlos, sondern mit teuflischer Nebenabsicht.
ihren Schrecken und Greueln, aber wir können uns auch
ation des laufenden Theaterjahres ist
Er will Helene Valois in Schande stürzen und so Gleiches
des flammenden Patriotismus erfreuen, der sich so schön
mit Gleichem vergelten. Aber die stolze Französin, die wie
November erlebte Arthur Schnitzlers
geltend machte, als es hieß, den Kampf gegen den
Der junge Medardus ihre erste Auf¬
die Wiener in Napoleon ihren ärgsten Feind sieht, be¬
grimmigen Feind aufzunehmen. Die dramatische Histprie
absichtigt, Medardus nur für ihre ehrgeizigen Zwecke zu
theater. In der ursprünglichen Fassung
sucht den Geist der Zeit auf die Bühne zu bringen, das
mißbrauchen. Damit die Valois' nur auf den Thron Frank¬
ie Darstellung sieben Stunden in An¬
Denken und Fühlen der Menschen in einer so großen
reichs kommen können, soll er den sieggekrönten Eroberer
d das war etwas mehr, als die Nerven
Epoche zu charatierisieren. Allerdings sind unter den
#nschen vertragen können. Jetzt dauert
ermorden. Wie sonderbar! An dasselbe hatte schon der
Persönlichkeiten, die austreten, nur wenige historische Ge¬
le fünf Stunden, was immerhin noch
Wiener Jüngling gedacht, doch nun, da es ihm die Valois
stalten. Aber die braven und schlechten Landeskinder und
ist. Allerdings ermüdet der Zuschauer
nahelegt, will er davon nichts wissen. Im Gegenteil. Im
die ränkevollen französischen Emigranten, die sich nicht in
nicht, denn die 15 Verwandlungen, die
Schloßhofe zu Schönbrunn ersticht er die verführerische,
den Blättern der Geschichte verzeichnet finden, sind so ge¬
Burgtheaters zuließ, bringen viel Leben
hochstrebende Helene, die er im Verdacht hatte, daß sie mit
sehen und ersunden, daß man das Gefühl hat, sie hätten
uf die Bühne. Schon der Theaterzettel
Napoleon insgeheim eine Liebschaft unterhalte. Erst im
ganz gut Anno s8i leben können. Historisch, im strengen
Gefängnis wird sich der junge Medardus seines Irrtums
und es will etwas heißen, daß die
Sinne des Wortes, ist eigentlich bloß die Tatsache, daß ein
Bühne Österreichs bis auf den letzten
bewußt: Helene war nach Schönbrunn geeilt, um einen ver¬
Attentat auf Napoleon versucht wurde, als der Kaiser der
buchstäblich genommen — ausrücken
borgenen Mordstahl gegen den Korsen zu zücken. Nun hört
Franzosen zum zweiten Male in Schönbrunn residierte.
hält der Theaterzettel mehr als sechzig
auch Medardus zu schwanken auf, erst jetzt gewinnt er die
Ein deutscher Jüngling, der Pastorssohn Friedrich Staps,
chen Mitwirkenden. Nicht so vollständig
Heldenpose. Er könnte sich retten, seinen Kopf aus der
hatte den Entschluß gefaßt, den Bedrücker seines weiten
beiblichen Mitglieder des Burgtheaters
Schlinge ziehen, aber er will sterben, gleichsam mit offenen
Vaterlandes aus der Welt zu schaffen. Er reiste von Erfurt
hin konnten wir eineinhalb Dutzend
Augen in den Tod rennen. Medardus gesteht, welche Ob¬
nach Wien und näherte sich am 12. Oktober 1809 Napoleon,
zählen. Dieses Aufgebot hätte schon an
sichten er gehabt, daß auch er Napoleon vernichten wollte.
um ihn mit einem scharfen Messer zu erdolchen. Aber ehe
Publikum in hellen Scharen herbei¬
Und er stirbt dafür.
Staps noch an den Sieger von Austerlitz und Wagram
n jedoch noch der Umstand, daß Arthur
Das ist die Fabel des Stückes, der rote Faden, der
herankommen konnte, wurde er von General Rapp erblickt
einen großen Kreis von Verehrern hat.
durch die Handlung läuft. Indes mehr als diese zu¬
und ins Gefängnis geschickt. Aus Friedrich Staps ist der
weiten prachtvollen Räume des Burg¬
sammengedrängte Inhaltsangabe besagt, hat Schnitzler in
junge Medardus geworden; aus einem phantastischen
um all die zu fassen, die gern bei der
seine dramatische Historie hineingelegt. Wundervolle, echt
Jüngling, der sich von Gott zu einer hohen Mission berufen
wären. Um es gleich zu sagen: der Abend
wienerische Menschen treten auf, schön in ihrer Güte, in
fühlte, wurde ein verliebtes, schwankendes Wiener Kind.
einen starken, rauschenden Erfolg. Auch
ihrem Idealismus, in ihrer treuherzigen Schwärmerei.
Seine Mutter, Frau Klähr, hatte ihren Mann ver¬
die ihres Amtes zu walten hatten,
Daneben gibt es auch viel schlechtes Volk, geldgierige
loren, als Napoleon zum ersten Male gegen die Hauptstadt
lichen Wurfe Schnitzlers und der hin¬
Denunzianten, schleichende Naderer, haltlose Kleinmütige.
Österreichs heranrückte. Deshalb blieb in der Familie ein
gsamen Aufführung des Burgtheaters
Es wird viel gesungen und geschossen, die Kanonen brüllen
starler Haß gegen den Emporkömmling, der der Welt
behaltes volle Anerkennung. Wien hat
und der Tod hält reiche Ernte. Wir befinden uns eben in
seinen Willen aufzwingen wollte. Kein Wunder, daß sich
t ein Anziehungsmittel ersten Ranges,
der rauhen Napoleonischen Zeit, in der die Geschichte zum
der junge Medardus Klähr mit unter denen findet, die sich
ich die Gelegenheit entgehen lassen, die
brausenden Strome anwächst und aufhört, ein friedlich hin¬
freiwillig melden, um Österreich im Kampfe gegen den Er¬
nitzlers und des Burgtheaters zu ge¬
fließendes Bächlein zu sein. Alles dreht sich um den einen,
oberer zu unterstützen. Schon ist der junge Medardus in
t es sehr fraglich, ob der junge
der gleichsam immer über der Bühne schwebt und doch nie¬
der schmucken Landwehrtracht ausgerückt, um sich den ab¬
anderen Bühnen sein Glück versuchen
mals auf die Bühne kommt: um Napoleon. Das ist ein
ziehenden Truppen anzuschließen. Doch da schwemmt die
feiner dramatischer Witz, den sich jedoch nur ein so gewiegter
wenige Theater, die sowohl über die
Tonau zwei Leichen an: seine liebreizende Schwester und
krischen als materiellen Mittel verfügen,
Stimmungsschilderer wie Schnitzler leisten konnte. Den
ufzuführen, das in der Buchausgabe den schönen Franz Valois, der ihr lange den Hof gemacht
jungen Medardus hätte Kainz spielen sollen. Jetzt liegt
hat. Vergebens freilich! Sein Vater, der in Wien im Exil
Trotzdem kann jeder das neueste Werl
die Rolle in den Händen des Herrn Gerasch, der sein Bestes
lebende ehemalige Herzog von Valois, wollte die Heirat
ten Verfassers von Anatol, Liebelei usw.
aufbietet, wie ja alle mit heiligem Eifer bei der Sache
seines Kindes mit einem Bürgermädel nicht zugeben, denn
kssen. Die reichlichen Regicangaben, die
Der Sensationsabend ist nun vorüber, das
sind
che gemacht hat, gestatten es, sich die Vor= er nahm für sich und sein Haus die Krone Frankreichs in
sihne plastisch zu veranschanlichen, auch Anspruch. Durch dieses tragische Erlebnis wird Medardus! Premierensieber ist überwunden, die Sensation aber dauert