II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 304

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22. Deudardus
Telephon 12.801.
46
„ODSERTER
1. österr. behördl. konz. Unternahmen für Zeitungs-Ausschnlltte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Dewähr).
Ausschnitt aus
7 12. 1910 Libfarissses Contralblatt, Lolpziz
vom:
Serenten sen erene, eren en
von getssser Bedeutung.;
F. E. Willmann.
Die Kenner und Schätzer der Muse Arthur Schnitzlers
haben eine große Ueberraschung und Enttäusche¬
Der Dichter pikant=sentimentaler „süßer Mädl“=Geschichten,
dem sie vor allem stets die Innerlichkeit seiner Schöpfungen,
die psychologische Vertiefung der von ihm geschaffenen Ge¬
stalten und Vorgänge nachrühmten, ist diesmal mit einem
Werke auf dem Plane erschienen, das lebhaft an die bereits
überwunden geglaubten Zeiten der Mühlbach, Dumas und
Sardou gemahnt. Der junge Medardus wird von dem Verf.
als „dramatische Historie“ bezeichnet: in Wahrheit ist es ein
dramatisierter Kolportageroman mit historischem Hintergrunde
oder auch ein historisches Wandelpanorama als Umrahmung
romanhafter Vorgänge. Das Stück zerfällt in eine endlose
Reihe von Szenen (so wird es auf der Bühne des Wiener
Burgtheaters dargestellt) und hat übermäßige Dauer. Bis¬
her war es nur Goethe und Richard Wagner gestattet, den
Theaterabend in so außerordentlicher Weise zu verlängern:
nun ist als dritter Arthur Schnitzler dazugekommen. Aber
der Unterschied in dem Dargebotenen macht sich doch etwas
stark fühlbar. Gewiß sind die Ereignisse des Jahres 1809,
da Napoleon vor den Toren Wiens stand und im Schön¬
brunner Schlosse als Sieger einzog, voll Interesse, zumal
für das Wiener Publikum selbst. Doch hat der Verf. die
eigentlichen historischen Persönlichkeiten (mit unbedeutenden
Ausnahmen) gar nicht vorgeführt, woraus wir ihm übrigens
durchaus keinen Vorwurf machen, sondern nur in ganz all¬
gemeiner und unzulänglicher Weise ein Bild jener bewegten
Tage zu geben gesucht. Im Vordergrunde stehen die von
ihm im wesentlichen frei erfundenen Gestalten, für deren
Gehaben und Schicksale wir uns beim besten Willen nicht
erwärmen können. Zumal der Titelheld, der stets auf
halbem Wege zandernd stehen bleibt und wirklich nicht zu
wissen scheint, was er eigentlich will, ist ein recht uninter¬
essanter Jüngling, mit dem der Zuschauer absolut nichts
anzufangen weiß. Man könnte ihn kaum zutreffender
charakterisieren, als es in dem Stücke selbst geschieht durch
die Aeußerung seines Freundes Etzelt: „Gott wollte ihn zum
Helden schaffen, der Lauf der Dinge machte einen Narren
aus ihm." Das Publikum bekommt freilich fast nur den
letzteren zu sehen. Sein Heldentum ist ebenso schwankend
und ungewiß wie sein Verhältnis zur ehrgeizigen Tochter
des französischen Thronprätendenten Valois, das fortwährend
pendelt. Alle diese Personen, die uns in endloser Reihe
vorgeführt werden (der Theaterzettel weist ihrer gegen achtzig
box 26/6
auf) kranken an dem Hauptgebrechen, daß sie mit geringen
Ausnahmen nicht den Eindruck der Wahrheit und Echtheit
machen. Viele von ihnen tragen ihre Meinungen und Gefühle
mit großem Pathos vor und machen sich gleich darauf über
das, was sie gesagt haben oder über sich selber lustig. Was
der biedere Sattlermeister Eschenbacher (nebenbei bemerkt,
eine der lebenswahrsten, dem historischen Vorbilde nachge¬
bildeten und von H. v. Balajthy in unübertrefflicher Weise
dargestellten Figuren des Stückes) von seinem Neffen
Medardus behauptet, daß er nämlich „kaum geschaffen ist,
andres zu erleben als den Klang von Worten“, das gilt
durchaus nicht von ihm allein. Man hört Worte, nichts
als Worte. Was soll man ferner zu den Reden der zum
Abschiedsgelage versammelten Studenten sagen? Haben
deutsche Studenten, die den nächsten Tag ins Feld gegen
den großen Tyrannen und Bedrücker ihres Vaterlandes¬
ziehen sollen, jemals in so frivoler Weise mit den heiligsten
Gefühlen Spott getrieben? Wir sollen das natürlich Alles
nur für Spaß und Ausfluß übereiliger Weinlaune nehmen;
aber derlei Späße machen einen recht bedenklichen Eindruck
und zeugen jedenfalls nicht vom besten Geschmacke ihres Ur¬
hebers. Überhaupt kommt die Wiener Bevölkerung jener
gefahrvollen Tage bei H. Schnitzler recht schlecht weg. Wenn
man sie nach den im „jungen Medardus“ vorgeführten zahl¬
reichen Typen beurteilen wollte, so bestand sie zum größten
Teil aus einer Schar neugieriger Maulaffen, politischer
Wetterfahnen und Jünglingen. Das Stück ist also wahr¬
haftig kein patriotisches Stück, wenn es sich auch durch das
Absingen patriotischer Lieder u. dgl. den Anschein eines
solchen gibt. Es hat gar nichts Erhebendes wohl aber
sehr viel Niederdrückendes. Daß die Schnitzler'sche Novität,
obzwar sie keinerlei literarischen Wert besitzt, dennoch am
ersten Abend einen sehr geräuschvollen äußerlichen Erfolg
fand, war eine für jeden Kenner der in Betracht kommenden
Verhältnisse von vornherein feststehende Tatsache. Setzt sich
doch das Premièren=Publikum der Wiener Theater zum
größten Teil aus jenen dem Verfasser sehr nahestehenden
Kreisen zusammen, die aus einem wirklich nachahmenswerten
Solidaritätsgefühle kaum jemals Einen der Ihrigen fallen
lassen, und hatte doch auch die maßgebende Wiener Presse
schon wochenlang vorher die Reklametrommel für das bevor¬
stehende große Ereignis gerührt. Gleichwohl konnte man
den Berichten der halbwegs auf ihre literarische Reputation
bedachten Kritiker deutlich den Zwang anmerken, weil dem
sie ihre innere Überzeugung von dem Unwerte des jüngsten
Bühnenwerks Arthur Schnitzlers mit der Rücksicht auf den
von ihnen stets als großen, wo nicht größten Dramatiker
unserer Tage gepriesenen Dichter in Einklang zu bringen
suchten. Bei Feststellung der Ursachen des äußeren Erfolgs
der Première darf schließlich auch nicht der ungeheuren
Leistung des Burgtheaters vergessen werden. Künstler,
Regisseur und Dekorateur haben für die Novität, die in
jeder Richtung übermäßige Anforderungen an ein Theater
stellt, mehr Mühe und Arbeit verwandt, als wohl jemals
einem andern zeitgenössischen Dichter an dieser bevorzugten
Stätte zuteil geworden ist. Und so kommt jedenfalls die
Schaulust des großen Publikums bei der fünfstündigen Vor¬
stellung nicht zu kurz, wenn auch diejenigen, die im Burg¬
theater Genüsse höherer Art suchen, das Haus an Geist und
Gemüt gänzlich unbefriedigt, aber dafür körperlich totmüde
verlassen.
Carl Seefeld.