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22. Denjunge Medandus
SAGE
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Medardus in Prag von Willi Handl
ramatische Historie: das bringt gleich die Vorstellung von
mächtig aufgerollten Ereignissen, von Kämpfen, Erschütte¬
rungen, Wandlungen, die eine Welt für sich zu bedeuten
haben. Eine epische Welt, die von der Willkür eines Einfalls oder vom
Zwang einer Begabung — was vielleicht nur zweierlei Ausdruck für
eine Sache sein mag = in die Form der Szene verlockt worden ist.
Das Gesetz des Dramas ist für dramatische Gebilde dieser Art gelockert.
Statt sinnvoll geschärfter Gegensätze ein üppiges Nebeneinander; Fülle
statt Strenge, Reichtum statt Schlagkraft. Die höchste Gabe des Dra¬
matikers, ins Zentrum der Ereignisse einen hellen Sinn zu setzen, so
daß sie durch und durch leuchtend werden und ihre Bedeutung für uns
alle offenbaren, wird da überwältigt von dem starken Trieb des Dra¬
matikers, die Szene zu erfüllen, seine Menschen aus eigener Macht zu
formen und zu kenken.
Auf Shakespeare geht die bedeutendste Erinnerung zurück; Schick¬
sale und Taten seiner Heinriche, seiner Richarde wälzen sich gigantisch
übereinander her, ungeheure Trümmer aus dem Urgestein des Mensch¬
lich=Allzumenschlichen, maßlos und gesetzlos, durch nichts beglaubigt
als durch die Gewalt ihres Daseins, das uns die Schrecken blutiger
Läufte herüberspiegelt. Der nächste Gedanke zielt gleich auf Goethes
„Goetz', diese genialste Eindeutschung shakespearischer Anreize; in das
behaglich hingebreitete Gemälde einer neuwerdenden Kultur ist doch
ein Schicksal von verständlicher Tragik gestellt: das Leben eines Auf¬
rechten, der dieser Zeit des Ausbiegens und Zersplitterns nicht mehr
angehören kann. Dann gibt es, soweit der Blick den Bestand des heuti¬
gen Theaters umfaßt, nur etwa noch den Florian Geyer', die Ge¬
schichte eines Niedersinkens ohne Halt, überwältigend in ihrer kargen
Sachlichkeit, unpathetisch und unparteiisch, tief mitleidvoll und tief
pessimistisch: hauptmannisch.
Dramatische Historie: die Königsdramen, der Götz, der Florian
Geyer — es sind verzweifelt gefährliche Maße, selbst für einen, der
auch sonst nicht mit geringem gemessen wird. Dennoch; das Maß liegt
in der Sache selbst und wird von ihr gefordert. Wer die hochhin¬
strebende Festigkeit des Dramas in den lockeren Fluß einer Historie
umzugießen wagt, der muß für den bedeutenden Verlust Bedeutendes
zu setzen haben. Shakespeare, Goethe, Gerhart Hauptmann: Genie
der leidenschaftlichen Bewegung, Genie der sinnfälligen Spiegelung,
Genie der sachlichen Darlegung; da ist überreicher Ersatz. Bei ihnen
steht nun Arthur Schnitzler, dessen beste Gaben, Delikatesse und Ver¬
sonnenheit, jenem leidenschaftlichen, sinnlichen oder sachgetreuen Wesen
gerade zu widersprechen scheinen. Er kommt aus einer Kultur, die das
Feine weit inniger liebt als das Starke: und er will eine Kultur, so
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22. Denjunge Medandus
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Medardus in Prag von Willi Handl
ramatische Historie: das bringt gleich die Vorstellung von
mächtig aufgerollten Ereignissen, von Kämpfen, Erschütte¬
rungen, Wandlungen, die eine Welt für sich zu bedeuten
haben. Eine epische Welt, die von der Willkür eines Einfalls oder vom
Zwang einer Begabung — was vielleicht nur zweierlei Ausdruck für
eine Sache sein mag = in die Form der Szene verlockt worden ist.
Das Gesetz des Dramas ist für dramatische Gebilde dieser Art gelockert.
Statt sinnvoll geschärfter Gegensätze ein üppiges Nebeneinander; Fülle
statt Strenge, Reichtum statt Schlagkraft. Die höchste Gabe des Dra¬
matikers, ins Zentrum der Ereignisse einen hellen Sinn zu setzen, so
daß sie durch und durch leuchtend werden und ihre Bedeutung für uns
alle offenbaren, wird da überwältigt von dem starken Trieb des Dra¬
matikers, die Szene zu erfüllen, seine Menschen aus eigener Macht zu
formen und zu kenken.
Auf Shakespeare geht die bedeutendste Erinnerung zurück; Schick¬
sale und Taten seiner Heinriche, seiner Richarde wälzen sich gigantisch
übereinander her, ungeheure Trümmer aus dem Urgestein des Mensch¬
lich=Allzumenschlichen, maßlos und gesetzlos, durch nichts beglaubigt
als durch die Gewalt ihres Daseins, das uns die Schrecken blutiger
Läufte herüberspiegelt. Der nächste Gedanke zielt gleich auf Goethes
„Goetz', diese genialste Eindeutschung shakespearischer Anreize; in das
behaglich hingebreitete Gemälde einer neuwerdenden Kultur ist doch
ein Schicksal von verständlicher Tragik gestellt: das Leben eines Auf¬
rechten, der dieser Zeit des Ausbiegens und Zersplitterns nicht mehr
angehören kann. Dann gibt es, soweit der Blick den Bestand des heuti¬
gen Theaters umfaßt, nur etwa noch den Florian Geyer', die Ge¬
schichte eines Niedersinkens ohne Halt, überwältigend in ihrer kargen
Sachlichkeit, unpathetisch und unparteiisch, tief mitleidvoll und tief
pessimistisch: hauptmannisch.
Dramatische Historie: die Königsdramen, der Götz, der Florian
Geyer — es sind verzweifelt gefährliche Maße, selbst für einen, der
auch sonst nicht mit geringem gemessen wird. Dennoch; das Maß liegt
in der Sache selbst und wird von ihr gefordert. Wer die hochhin¬
strebende Festigkeit des Dramas in den lockeren Fluß einer Historie
umzugießen wagt, der muß für den bedeutenden Verlust Bedeutendes
zu setzen haben. Shakespeare, Goethe, Gerhart Hauptmann: Genie
der leidenschaftlichen Bewegung, Genie der sinnfälligen Spiegelung,
Genie der sachlichen Darlegung; da ist überreicher Ersatz. Bei ihnen
steht nun Arthur Schnitzler, dessen beste Gaben, Delikatesse und Ver¬
sonnenheit, jenem leidenschaftlichen, sinnlichen oder sachgetreuen Wesen
gerade zu widersprechen scheinen. Er kommt aus einer Kultur, die das
Feine weit inniger liebt als das Starke: und er will eine Kultur, so
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