II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 443

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22. Der junge Medandus
sein und so stark zugleich, daß die menschlichen Instinkte, vom Be¬
wußtsein entlarvt, einander offen ins Gesicht sehen können, ohne
allzusehr zu erschauern. Denn heute können sie das noch nicht, und den
Menschen fällt ein klägliches Zittern an, wenn er einmal, vom Blitz
eines starken Augenblicks, vom Licht einer besonderen Stimmung oder
von der Verwegenheit eines zu Ende gedachten Gedankens, sein Inner¬
stes jählings erhellt sieht. Dieses Zittern, das solche Menschen des
Uebergangs durch ihr stärkstes und tiefstes Erleben hindurchführt,
diese überwache Furcht vor den Geheimnissen der eigenen Natur, vor
Dinge, die wechselnden Spannungen der Ich=Angst und der All=Angst
sind seit jeher Schnitzlers liebste dramatische Atmosphäre gewesen; auch
wenn er, wie in den meisten seiner Einakter, wissend darüber hinzu¬
lächeln scheint. In dieser Luft gedeiht nun freilich statt leidenschaft¬
licher Gebärden der unerbittlich weitertreibende Gedanke; statt
blühender Anschaulichkeit die wissentlich gepflegte Form; statt sach¬
licher Treue die elegante Ueberlegenheit.
Von derart feinen und feinsten Dingen ist nun Der junge
Medardus Szene für Szene voll. Und es ist wunderbar, zu sehen,
wie dieses völlig andre Stimmungsmaterial von der geistigen und tech¬
nischen Meisterschaft des Dichters zu Formen gebracht wird, die sich
in Ausdruck und Rhythmus jenen großen Beispielen dramatischer
Historien vielfach annähern. Aber gerade diese Annäherung der Form
offenbart auf das schärfste wieder den unüberbrückbaren Abstand im
Gehalt der Stimmungen dort und da; es ist eben der Abstand
zwischen inniger Lust an der Wirklichkeit und ratloser Angst vor der
Wirklichkeit.
Annäherung der Form: Das große Ereignis wird an der Neu¬
gierde und Verblüffung der kleinen Menschen abgespiegelt; die Unper¬
sönlichen, die Bedeutungslosen — die Leute laufen zusammen, und aus
den Interjektionen ihres Unverstandes ergeben sich doch die sichern
Zeichen dessen, was ist und wird. Schnitzler zeigt die denkwürdigen
wiener Tage von 1809, das Anrücken und die Gegenwart Napoleons.
Zeigt sie im aufgeregten Hin und Her von allerlei Volk, im Schwatz
der Straßen und der Stuben, in Gruppierungen und Aufläufen. In
Volksszenen, mit einem Wort, wie sie endlich zum Bestand jeder dra¬
matischen Historie gehören. Aber wie sehr unterscheiden sich diese
Szenen an Auffassung und Stimmung von denen andrer Historien!
Dort erscheint das „Volk als eine ziemlich homogene Masse, als
amorpher plastischer Körper, dem von der Oberfläche der Ereignisse
allein die Formen des Ausdrucks aufgeprägt werden. Eine Art Chorus
ist es noch immer, eine halbbewußte Begleitstimme zur großen Musik
der geschichtlichen Vorgänge. Hier aber fällt die Kritik des Dichters
auch auf den kritisierenden Chorus nieder, der Refler des Geschehens,
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