II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 454

22. Derjunge Medandus
sel
Wien und Wien.

Do
A L
Georg Hirschfeld.
ie Kulturgeschichte ist zuweilen scherzhaft aufgelegt
B und nimmt die ernste Brille von der Nase. Was
sonst ein „Gebiet“ heißt, weit und, trotz der vielen Lichter,
die emsige Köpfe angezündet, dunkel, wird durch einen
anmutigen Zufall plötzlich in scharfen Einzelerschei¬
nungen deutlich. Wien, der Begriff der Tiefe und der
Oberflächlichkeit, der geliebten Tradition und der gleich¬
gültigen Zukunft, die alte Hauptstadt, welche deutsche
Sehnsucht an der Pforte des Orients weiß, und zugleich
ein nettes Gewackel aller Moden, Ernste und Späße —
dieses widerspruchsvolle Wien wird zu schwer und zu
leicht genommen. Europas Arbeit kommt, darf man
vielleicht sagen, in Berlin auf den praktischen Verkaufs¬
teil, in Wien auf den Vergnügungsteil des Welt¬
marktes. Das Vergnügen aber schimmert in allen
lichten und dunkeln Farben. Jede Seele, die Wien er¬
reicht, bringt ihre Fracht in diese Stadt. Sie hofft
einem Nachhall der Heiden und Meister, die in dieser
Stadt geschaffen haben, zu begegnen, und wird nicht
enttäuscht. Ein Frühlingstag kann alles, was in
Wiener Gärten und Gassen entstanden ist, widertönen,
ein Herbsttag alle Sieger und Besiegten prächtig vor¬
überziehen lassen. Doch unausbleiblich ist auch die Er¬
nüchterung. Der Schimmer zerfließt unter dem Grob¬
korn der Wirklichkeit. Die Gegenwart steht recht breit¬
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Lebenskraft, Wiener Frauen grü
beinig da und sagt: Nun ja, die alten Herren. Haben
um uns weben kann im Alltag
halt gelebt wie andere Leut'. Gott hab' sie selig. Mir
vergehen immer, bis ich Schnizl
san mir. Aber mit diesem robusten Ichglück weiß der
Werk bleibt mir lebendig, aber den
gebildete und gefühlvolle Fremdling nichts anzu¬
will seine Auffrischung haben. S
fangen. Es schmeckt nicht gut, es riecht nicht gut,
zuvor bei jenem Vortragsabend i
Er steht zwischen Stephanskirche und Se¬
hatte er, wie alle Vortragsabende
zessionsgebäude und ist ratlos.
unangenehme Publikumsneugier
Aber in München, weit von den Fiakerständen und
Dichters, Vortrag eines Bruchsti
Beethovenorten, kam ihm jüngst die unvergeßliche
von einem dem Publikum noch nich
Illustration. An derselben Stelle nämlich ließ in einer
gab. Aber was aus der Gestalten
Folge von wenigen Tagen der Zufall zwei Wiener er¬
Vorspiels, aus der vollendet ge
scheinen, deren Persönlichkeit und Vortrag repräsen¬
Leutnant Gustl und den zugeg
tative Typen zeigten. Es geschah an zwei Abenden
einkäufen“ den Jahreszeitensaal d
des Neuen Vereins. Artur Schnitzler erschien und
lichster Duftrauch aus der Zaube
chen auch Adolf
las aus seinen Dichtue
Poeten. Ich lehnte mich wieder
Loos, der Architekt, und verkündete seine Anschau¬
schloß meine Augen und fühlte
ungen. Mir ist Schnitzler seit vielen Jahren tief ver¬
digster Ruhe. Ja, druben, in alle
traut. Ich danke ihen, daß sein poetischer und mensch¬
diesisch fern, drüben schritten
licher Genius mich nahe an die ewig reine Wiener
Schnitzlers Geschöpfe. Eine bess
Waldquelle geführt hat, daß meine Liebe durch den
Beschönigung, sondern durch gra
Staub der Wiener Moden niemais ganz ernüchtert
sah die Menschen um mich her#
und erstickt worden ist. Ich hatte jedesmal, wenn ich
hören und Eindrücke erleben.
nach Wien kam, vor anderen Fremden etwas voraus.
kühlen Bezirk ihrer gesellschaftlich
Der Meister, dem Schuberts Unsterbliches das goldene
bernd doch, gelöst, im Innerste
Band zugeworfen hatte, domit er die neue Zeit mit
Männer, die mit sinnenden L##
der alten verknüpfte, ging neben mir durch die schmalen
stufen ihres harten Lebens nach
Gassen der inneren Stadt und sah mit mir von den
Abenteuer waren oder nur hie
Hügeln draußen auf die Donau und die dämmernde
Lebens Duft und Farbe waren.
Masse der Häuser. In der Nähe seines Dichterherzens
durfte ich die Sehnsucht erwachen lassen nach naiver oben auf dem Podium, Meister?