II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 487

Berliner Zeit am Mittag
Berlin
2 5. Okt. 191.
anuee
dem Retter Napoleons, die höchste kaiserliche Gnade
Der junge Medardus
blüht, er aber freimütig unversöhnliche Feindschaft
gegen den Bedrücker gelobt und sich füsilieren läßt.
Artur Schnitzlers Drama im Lessing¬
Medardus, dessen einzige kraftvolle Tat die
theater.
Selbstvernichtung war, bewegt nicht die stocken¬
Vier Jahre nach der Wiener Uraufführung
den Dinge dieser dramatischen Historie, er wird
und nach dem Erscheinen des Buches, über das
von ihrer Ebbe und Flut wechselnd gehoben und
hier schon gesprochen wurde, findet das Lessing¬
gesenkt. Er ist ein nur zu leicht ausschaltbarer
theater Lust und Mut, diese weit in die Breite
Mittelpunkt des figurenreichen Panoramas, das
gegangene, mehr dicke als tiefe Historie aufzu¬
in die Atmosphäre Altwiens getaucht ist. Mit
führen. Ein Vorspiel und fünf Akte, also sechs
zartgetönten Farben hat allerdings Schnitz¬
Akte, sechzehnmaliger Szenenwechsel, über sechzig
ler, der das Herz seiner Heimatstadt kennt und
Sprechrollen, Soldatenaufzüge, Kriegstumulte,
innig liebt, das Wien der Basteien und des
intime Familienbilder, Volksaufläufe. Man hat
Glacis aquarelliert.
das volksstückmäßige Hintereinander, dem der
1809. Kriegstage Altwiens. Napoleons über¬
dramatische Motor fehlt, mit viel Respekt, dann
großer Schatten liegt düster über der hellheiteren
mit einem gewissen erstaunten Schweigen, unter¬
Stadt, in der Beethoven und Haydn schaffen, in
brochen von schüchternen Protesten, ganz zuletzt
der der achtzehnjährige Grillparzer Jura studiert,
mit einer kleinen Ovation für den Dichter hin¬
der Knabe Franz Schubert Hofkapellsänger ist,
genommen. Der große Krieg, dessen dritter Mo¬
der junge Ferdinand Waldmüller seine reizenden
nat nun zu Ende geht, hat die schwierige Auffüh¬
Miniaturen malt. Die berühmten Feldherrn
rung, vor der die Theater scheuten, jetzt doch ver¬
lenken weitab die Geschicke der Welt, von fernher
wirklicht, denn aus dem Werke, zumal den ersten
schwebt nur als leichter Nebel der Pulverdampf
Szenen, haucht der heiße Atem einer schweren krie¬
von Aspern und Wagram herüber, und gleichsam
gerischen Epoche, und wenn auch Schnitzlers
in den Ritzen der Weltgeschichte erfüllen sich die
Skepsis auch hier an große Werte rührt, so ver¬
Privatschicksale der Kleineren, der Medardusse,
letzt sein Takt niemals ein jetzt doppelt erregbares
der Prinzessinnen, der Bürger, die erschossen wer¬
Gefühl.
den, weil sie Landkarten verstecken. Viele dieser
Der Wiener Bürgerssohn Medardus Klähr,
kleinen braven Bürgersleute sind mit feinen
der zu den starken Taten immer nur den An¬
Strichen lebendig gezeichnet, am interessantesten
lauf nimmt, dem nur die Geste beschieden bleibt
die symbolische und doch ganz reale Figur des
und der von allem, was er unternehmen mag,
„uralten Mannes“, der alle Jugend überdauert.
immer nur das Gegenteil erreicht, dieser ver¬
Hier ist der echte Schnitzler am Wort, der nun
zweifelte Zauderer zeigt beim Verlebendigungs¬
einmal für die großen Historien nicht die
versuch der Bühne erst recht sein romantisches
Hand hat.
Romanwesen und seine richtungslos verflatternde
Seele. Er ist ganz und gar von der weichen
Und in der Darstellung solcher Figuren und
Passivität der Schnitzlerschen Jünglinge, denen
Figürchen ist auch das Lessingtheater weitaus
alles stärkere Wollen in einem genüßlerischen
glücklicher als in der Wiedergabe der großen
Lebemannstum oder einem ironischen Pessimis¬
Wortemacher des Stückes. Herr Götz als der
mus zerrinnt. Und mit den verstärkenden
uralte Herr auf dem Kirchhof gibt eine kleine,
Farben der Bühne treten auch die Szenen, die
scharfe Studie; Herr Loos, der Medardus zu
den Geschmack von Intrigenkapiteln historischer
sein hat, ist ein mißgestimmter, durchaus un¬
Romane aus dem Vormärz haben, unverhüll¬
jugendlicher „Raunzer“, der die schwankende Ge¬
ter hervor. Der Prinz, der die Bürgerstochter
stalt noch unleidlicher macht. Kayßlers ge¬
liebt und mit ihr ins Wasser geht, weil der
messener Generaladjutant Napoleons und
hochmütige Vater die Mesalliance nicht billigt.
Salfner als der ruhig=überlegene Sattler¬
Die Herausforderung am Grabe. Duell. Napo¬
meister, der mit verwundertem Lächeln in den
leon als geretteter Holofernes, eine französische
Tod geht, halten das Niveau der Bühne.
Fräu¬
Prinzessin als verhinderte Judith.
lein Lossens Verhaltenheiten sind dem hekti¬
schen Flackerfeuer der vielseitigen
Prinzessin
Es ist ein recht verschlungener Weg, der zu der
nicht günstig. Sie markiert nur nachdrücklich
Schlafzimmeraffäre Napoleons in Schönbrunn
die Dinge, auf die es ankommt. Bar¬
führt. Sie hätte der Zellkern des Stückes werden
nowsky hat die wesentlichsten Züge des Werkes
dürfen; das sich an allzu viele Nebendinge ver¬
geschickt herausgeholt, und wenn er auch das
zettelt. Schnitzler hat nur sicherlich gescheut, ein¬
Schönste des Ganzen, den Duft der wienerischen
mal den Sardou zu spielen, aber der ist ja doch im
Stimmungen, nicht in Theaterparfüm umzuschaffen
Stück und durch keine noch so „hochmütig mördef vermochte, so hat er doch den Dichter nicht zu
rische Finger“ einer lüsternen Prinzessin entfernbar.
schmerzlich verkürzt.
Norbert Falk.
Diese Dame ist ungleich interessanter als der Buch¬
händlerssohn Medardus, der erst voll Kriegslust
Theater= und Konzertnachrichten.
flammt, aber statt gegen den Bedrücker Napoleon
In den Kammerspielen des Deutschen
auszuziehen, in Wien zurückbleibt, weil seine
Theaters findet am Freitag die erste Aufführung
Schwester mit einem sentimentalen Franzosen¬
von Kotzebues Lustspiel „Die deutschen Klein¬
prinzen in die Donau ging. Die gegen Bonaparte
städter“ statt. Das Stück wird von Max Rein¬
aufgespeicherte Glut richtet sich nun gegen die ver¬
hardt inszeniert.
meintlichen Beleidiger seiner Ehre. Medardus
Im Theater am Nollendorfplatz
wechselt sein Ziel. Die Prinzessin, die Schwester des
gelangt das Repertoirestück „Immer feste druff“
Mannes, der ihm die Schwester raubte, macht er
auch am heutigen Nachmittag 3¼ Uhr in der
Originalbesetzung zur Aufführung.
zu seiner heimlichen Geliebten, um ihre Schande
Anton und Donat Herrnfeld haben eine
dann laut auszurufen. Auch zu solcher Lumperei
*
neue Komödie unter dem Titel „So leben wir!“
fehlt ihm die Kraft der Konsequenz. Und auch das
zwei Akte aus der Gegenwart — vollendet
neueste Ziel seines herumirrender Betätigungs¬
Die Novität, die eine Fortsetzung der Kriegs¬
dranges wird verfehlt: die Ermordung Napoleons.
episode „Er kommt wieder“ bildet, wird Don¬
Was er aus gutem deutschen Zorn heraus tun
nerstag, den 29. d. M., im Gebrüder Herrnfeld¬
möchte, will seine vornehme Geliebte im Interesse
Theater ihre Erstaufführung haben. Die Autoren
ihrer Hauspolitik getan haben. Das verleidet ihm
sind die Träger der Hauptrollen.
„Das Ungeheuer“, die bekannte Satire des
die Sache, und als er die Liebste, die heimlich
verstorbenen Jon Lehmann, die russische Zu¬
Napoleons Schönbrunner Nächte kürzt, dabei er¬
stände geißelt und vor einigen Jahren am Neuen
tappt, wie sie zu dem Bezwinger der Welt mit
Theater in Berlin aufgeführt worden ist, hatte
dem Dolche heranschleicht, da tötet er sie. Zum
am Neuen Schauspielhaus in Königsberg i. Pr.
Mann macht ihn erst der letzte Schluß, als ihm, I einen lebhaften Erfolg.

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„Extrablätter!“
Die Kriegsposse des Berliner Theaters.
Extrablätter bringen steis das Neueste
das kann man von der Kriegsposse des Ber¬
liner Theaters, zu der sich die bewährten Autoren
dieser Bühne Rudolf Bernauer und Rudolf
Schanzer und als neuer Mann Heinz Gor¬
don zusammengetan haben, nicht immer sagen.
Was augenblicklich auf den Berliner Bühnen an
aktuellen Stücken gespielt wird, taucht auch in
diesem Gelegenheitsstück auf — die Aufregungen¬
der Mobilmachung, der jüngste Sproß einer zahl¬
reichen Familie, der durchaus mit ins Feld will,
die rabiate Belgierin, die den Werbungen des
Feldgrauen gegenüber spröde bleibt, der öster¬
reichische Bundesbruder, der den Deutschen nicht
versteht, der Berliner, der französische Worte in
seiner Manier interpretiert, das Brandenbur¬
ger Tor, vor dem feldgraue Soldaten defi¬
lieren, diesmal allerdings mit dem besonderen
Trick, daß sie auf einer Seite Wiener, auf der
anderen Berliner sind, usw. Indessen, die Ver¬
fasser haben alle die eine Entschuldigung: den
gemeinsamen Stoff. Und wenn sie dem stets
gleich bleibenden Gerüst ein paar neue Ara¬
besken anfügen, so ist man schon zufrieden. Die
neuen Momente im Berliner Theater heißen das
Psychobarometer, durch dessen geheimnisvolle
Kräfte ein deutscher Flieger angeblich seine Er¬
regung über die Entdeckung einer deutschen

Schickt Euren Angehörigen
Zeitungen und Kriegskarten
ins Feld.
1
Stellung verrät, während in Wahrheit die Un¬
ruhe von der Invasion eines feindlichen In¬
sekts herrührt, ferner eine Szene im rollenden
Eisenbahnwagen („40 Mann oder 6 Pferde“), und
Herr Meier, der ausgerechnet im Jahre 1914
in seidenen Blusen und in jüdischen Witzen macht.
Extrablätter sollen anregen — das tun
die des Berliner Theaters, abgesehen von ein
paar toten Punkten im zweiten Bild, in hohem
Maße. Die Revue — denn eine solche ist es, so¬
zusagen eine „Reise um den Kriegsschauplatz in
3½ Stunden“ — birgt eine Fülle von guten
Scherzen und amüsanten Aperaus, unter denen
auch die übliche Bernauersche Redensart: „Das
war siebzig genau sol“ nicht fehlt. Sie ist in der
leichten, geschmackvollen Manier gemacht, die das
Berliner Theater über manches kandere Possen¬
theater erhebt. Sie ist natürlich auch wieder von
dem einen Verfasser Rudolf Bernauer geschickt in¬
szeniert, während der erfindungsreiche Ferry
Sigmund die Tänze beisteuerte. Die beiden
Lieblinge des Publikums, Lisa Weise und
Oskar
Sabo,
haben
ihre richtigen
Rollen. Die Weise ist die Kommerzien¬
ratstochter mit der Vorliebe fürs Fliegen.
Sabo spielt einen Militärflieger, einen
forschen Jungen mit losem Mundwerk, der sich
tapfer durch alle Gefahren durchschlängelt, in
der Taube Seite an Seite mit dem Kommerzien¬
ratstöchterlein nächtens über Paris leuchtende
Bomben wirft und nach Friedensschluß sicherlich
mit seiner reizenden Gefährtin den Flug durchs
Leben antreten wird. Auch die drastische Jo¬
sefine Dora, die lebendige Verkörperung der
alten, guten Possentradition, ist da, diesmal
als weiblicher Straßenbahnschaffner. Die Musik
ist in ihren Haupttreffern vom Hauskomponisten
Walter Kollo. Das oft wiederkehrende Walzer¬
duett: „Ich glaube, da fliegt ’ne Taube“ ist ein
hübscher Einfall, ebenso der Tanz zu dem von
Sabo und der niedlichen Erna Nitter pikant
n
getanzten
vom „deu
schließt, is
Kollos