II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 491

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22. Derjungedardus
Berliner Lokal-Anzeiger
(Morgen-Ausgabe)
Berlin
Kanft und Wissenschaft.
J. K. Das Lessing=Theater brachte gestern
Artur Schnitzlers vielbesprochene „dramatische
Historie": „Der junge Medardus“ — mit
reichlicher Verspätung als Novität für Berlin —
zur Aufführung. Die kritischen Akten über das
Stück sind geschlossen. Alles, was über seine Vor¬
züge und Schwächen zu sagen war, ist nach Er¬
scheinen der Buchausgabe und gelegentlich seiner
Erstaufführung im Wiener Hofburg=Theater in
eingehenden Besprechungen dargelegt worden.
Und der Eindruck, den das Werk gestern in stark
gekürzter und doch noch immer bedrohlich langer
Form (14 Bilder!) machte, stimmt mit jenen Aus¬
führungen völlig überein. Man erkannte auch
gestern wieder: hier gelang Schnitzler ein Wurf
im Erfassen einer großen Idee, ohne daß ihm
die Kraft zu, deren großzügigen Ausgestaltung
geblieben. aues, was an volkstümlich=historischer,
speziell wienerischer Kleinmalerei den eigent¬
lichen Kern der Handlung umrankt, ist volkstüm¬
lich und historisch im besten Sinne, bringt eine
Fülle echter Typen aus der Wiener Franzosen¬
zeit (1809) und stilisiert die Eiganart
der geschilderten Periode trefflich,
ohne
zur Trockenheit der „echten Historie zu erstarren,
Das romantisch=konfuse Schicksal des jungen Me¬
dardus aber, des anscheinend so draufgängerisch
veranlagten Wiener Bürgersohnes, rückt, je be¬
wegter und rundlicher es sich ob der „Eigenart“
dieses Wirrkopfes ausgestaltet, desto mehr in den
Hintergrund unserer Teilnahme. Und so bunt
und tragisch es auch zugeht im Leben dieses selt¬
samen Jünglings, der just, da er ausziehen will,
um mitzuhelfen an der Befreiung seines Vater¬
landes vom napoleonischen Joch, ein Spielball an¬
derer kleinlicherer oder wenigstens rein persönlicher
Empfindungen wird, Taten der Rache in Fa¬
milien= und Herzenssachen plant und doch schlie߬
lich immer daneben handelt — nur hin und wie¬
der rüttelt er unsere bedächtige Achtung vor seinen
Drangsalen, die wir mit ihm teilen müssen, zu
lebhafterer Anteilnahme auf. Unser Herz und
unsere Sinne gehören eher all den andern Wie¬
nern und Wienerinnen um ihn her, all den zeit¬
geschichtlichen feinen und treffenden Zeugen. Ob
das genügen wird, um dem an fesseln¬
den
Einzelreizen nicht armen Werk über
die Bedeutung seines Titelhelden hinaus!
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Anziehungskraft zu sichern, bleibt abzuwarten.
Direktor Barnowsky hat mit Geschick versucht, die
Schrecken der schwierigen Inszenierung des ner¬
vigen anspruchsvollen Werkes zu überwinden.
Aus der fast verwirrenden Fülle der Gestalten
ragten als bedeutsamste schauspielerische Leistun¬
gen, die von schlichter Kraft und innerer Größe
erfüllt, Frau Klär Ilka Grünings und Heinz
Salfners ehrlich kerniger Jakob Eschenbacher her¬
vor. Der schwierigen Aufgabe, die Rätsel des
jungen Medardus zu lösen, wurde Theodor Loos
nur zum Teil gerecht. Er gab, vom Dichter zu
Irrtümern und Mißgriffen verführt, wohl kaum
ein rechtes Bild der schwer greifbaren Gestalt.
Auch Lina Lossens Helene von Valois fesselte nur
in etlichen reizvollen Zügen. Zur treffenden und
erschöpfenden Charakteristik dieser recht kompli¬
zierten Dame fehlte just das Entscheidendste oder
wurde von gar zu viel Hoheit und Würde über¬
strahlt. Unter den Darstellern der zahllosen
wichtigen Episoden seien in aller Eile die Herren
Gottowt, Herzfeld, Adalbert, vor allen aber Fried¬
rich Kayßler als General Rapp genannt.
Der Brackenburg =Gestalt des Karl Etzelt
vermochte auch die Kunst Alfred Abels neue
fesselnde Züge nicht zu verleihen. Das Publikum,
anscheinend recht kritisch gestimmt, verharrte in
achtungsvoller Kühle, und als nach dem zehnten
Bilde der Erschießung Eschenbachers, der zögernde
Beifall sich zu kräftigen versuchte, stieß er auf Nei¬
gung zu Widerspruch. Hoffentlich hielten die
Meinungsäußerungen auch nach den beiden letzten
Bildern, deren Wirkung abzuwarten, die vor¬
gerückte Stunde hinderte, sich in den Grenzen takt¬
voller Mäßigung.