II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 536

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das Tun und Lassen eines „Helden“ nach der üblichen Weise,
vielmehr sucht er die Stimmung des ganzen Volkes, ganz Wien
in allen seinen Gesellschaftsschichten und in allen Ständen zu
schildern und aus der Darstellung den Verlauf der Ereignisse
zu erklärell.L
Dieser ursprüngliche und wirklich geniale Plan — das Wort
genial paßt sonst auf Schnitzlers Schaffen keineswegs — mußte
auf irgend eine Weise Fleisch und Bein gewinnen, wenn er
nicht einfach eine Erzählung von Napoleons Siegeszug werden
sollte. In der Ausführung der Idee aber zeigt sich Schnitzler
als der Novellist, als der Dramatiter der kleinen seinen, psycho¬
logisch durchgearbeiteten Episode. So groß er sich von dem üb¬
lichen Napoleondrama mit Geschützdonner und Paukenkrach
fernhält, so bescheiden ist er in dem, was er eigentlich auf der
Bühne vorführt. Von Napoleon und seinem Siege handelt das
Stück — seine Bewegung, sein Leben aber erhält es von einer
Liebes= und Intrigantengeschichte. Der junge Medardus, der
Buchhändlerssohn, zerflattert den großen Vorsatz, mit dem
Heere gegen den Feind zu gehen, in dem Augenblick in die
Winde, weil er zwischen Haß und Liebe hin= und herschwankt;
sein Verderben ist eine Prinzessin von Valois, deren Bruder
Franz die eigene Schwester des jungen „Helden“ mit sich in
den Tod genommen hat. Am Grabe sah Medardus die Prin¬
zessin Helene zum erstenmal. Er haßte sie, blutete
um dieses Hasses willen in einem Duell und
muß sich schließlich doch von Liebe zu ihr überwältigt sehen.
Aber die stolze Prinzessin will mehr als Liebe. Sie hofft den
jungen Medardus, im Morde des inzwischen in Schönbrunn
weilenden Kaiser N poleon bewegen zu können. Medardus hat
selbst diesen Plan chon erwogen gehabt. Aber da er nun
Werkzeug der Valois, der alten Gegner der Republik sein soll,
ekelt ihn die Tat an, und er ermordet in einer Aufwallung
seines Herzens die Prinzessin, gerade als diese selbst auf dem
Wege ist, Napoleons Siegeslauf mit dem Dolch zu beenden.
Im Gesängnis fühnt Medardus seine zwiefache Schuld, die
gegen das Vaterland durch ein offenes Geständnis seines An¬
schlages gegen Napoleon, die gegen die Valois durch den Tod,
den ihm Napoleons Adjutant General Rapp als hartnäckigem
Feinde diktiert. Zwischen diese vielfältigen Handlungen schiebt
ich die eines echten Patrioten, des Sattlermeisters Jakob
Eschenmacher, der, ein Obeim des jungen Medardus, als Opfer
seiner Vaterlandsliebe „illt. Das Ganze ist umwoben von un¬
zähligen Szenen, die das Wiener Bürgertum zu Napoleons
Zeit und wohl auch noch ein Jahrhundert sputer schildern.
Alles Einzelne ist da ebensogut beobachtet wie novellistisch sein
herausgearbeitet. Viel Leben breitet sich in den Bildern aus,
und aus dem Leben wachsen einzelne Figuren zu persönlicher
Bedeutung. So der eben genannte Eschenbacher, oder Karl
Etzelt, der großdenkende Geschäftsleiter der Buchhandlung,
oder der geschwätzig neugierige Drechslermeister Berger. Auch
die Hauptpersonen des Stückes haben viel Leben und viel
Wahrheit, so der Herzog von Valois und vor allem Helene,
die Schmalheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
sie unzweifelhaft hinterlassen, macht die Größe des Planes und
die Schmeichelheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
so schwerer, als doch Schnitzler bei seiner Schilderung des
Wienerischen Oesterreich vieles Aeußerliche ausgezeichnet be¬
merkt und geschildert, nicht aber die in unserer Zeit erwiesenen
Fähigkeiten kraftvollen Aufschwungs vorausgeahnt hat.
Der Umfang des Werkes veranlaßte die Regie, die Victor
Barnowsky selbst mit sicherer Hand führte, zu energischen
Strichen. Der Rotstift hat das Gerippe der Handlung natür¬
lich stehen lassen und nich theatralischen Gesichtspunkten von
dem poetischen Fleisch nu. das genommen, was nicht entbehr¬
lich schien. Dadurch hat sich der Eindruck des Stückes ein
wenig zu des Dichters Ungunsten verschoben, der Novellist und
Schilderer ist ein wenig gewaltsam zum starken Dramatiker
gepreßt worden. Vielleicht geht es mit dem „Jungen Me¬
dardus“ so wie mit Ibsen, daß man nämlich nach und nach
noch einiges aus dem breiten Text nachträglich wieder einfügt,
was bei der Première aufzuführen aus praktischen Gründen
untunlich erschien.
Die Aufführung erwies in ihrem Ernst und ihrer Kraft,
—chaustück
daß man sich alle Mühe gegeben, mehr als ein Sen
herauszustellen. Zwar vermochte Theodor Loos dem jungen
Medardus weder die Feuerseele eines Retters des Vaterlandes
zu geben, noch den romantischen Widerstreit zwischen Liebe
und Haß mehr als äußerlich darzustellen. Dafür verlieh Lina
Losson der Prinzessin Helene Kraft, Innerlichkeit und Hoheit,
vielleicht aber zu viel Reinheit und Geradheit. Sie war
„jeder Zoll eine Königin“ nicht aber eine intrigierende
Thronprätendentin, die mit niederen Mitteln zu arbeiten
weiß. Ganz im Sinne des hoheitsvollen Entthronten spielte
Max Lande den alten Herzog und mit tiefer, echter Mütter¬
lichkeit Ilka Grüning die Mutter des Medardus. Von anderen
hervorragenden Leistungen muß Heinz Salfners tiefsympathi¬
sche Wiedergabe des Eschenbacher und Alfred Abels Dar¬
stellung des Etzelt genannt werden. Mit vielem Geschick mimte
Guido Herzfeld den Drechslermeister Berger. Dagegen ver¬
sagte Senta Söneland als dessen Frau in Maske und Spiel
vollkommen. In den Rollen des Generals Rapp und des
und Kurt Götz zugleich
„uralten Herrn“ gaben Kayßl
energisch und feinabgestimmte #den. Die szenischen Bilder
nach Entwürfen von Karl Wal, waren durchweg trefflich;
die ganze Aufführung verdient lebhaftes Interesse wenn sie
auch ganz zweifellos manche Schattenseiten aufweist, davon
ein großer Teil im Stück selbst begründet ist.
Dr. Thyssen.
———
Zeitaag: Dresdner Anzeiger
Adresse: Dresden 27. Oktaet¬
Datum:
* Berliner Brief. Vier Jahre hat es gedauert, bis
Arthur &
mitzlers dramatische Historie:
junge Megadus durch eine sorgfältig vorbereitete
und reich gausgestattete Aufführung des Lessing¬
Theaters auch En Berlinern auf der Bühne gezeigt
wurde. Man hatte so lange gewartet, bis es — zu spät
war. Die vorzügliche Darstellung seinerzeit in der Burg
verdankte ihren großen Erfolg doch nicht nur dem Wiener
Herzen, dessen hundertjähriges Spiegelbild hier so scharf
eleund dechin zart und sein enthüllt wird, sondern
uch jenem Verwandtschaftsgefühl, das man mit dem
belden zu haben meinte. Der brausende Stin einer
enen, großen Zeit aber hat die ganze bläßlich=spielerische
errlichteit Schnitzlerschen Heldentums wiggefegt, und
ieser Medardus, ein Anatol der Romantil, wirkt nicht
tehr psychologisch wahr, künstl risch reich, sondern einfach
einlich und unerträglich auf uns. Die Zeit der C. T. A.
doffmannschen Dämmerungsgestalten, der phantastischen
Schwärmer ist vorbei, und unser Sinn gehört den Män¬
tern mit Leier und Schwert, den Körner, Arndt und
Schenkendorf. In welch wunderlichem Zwielicht steht
och dieser Held der Schnitzlerschen Historie! Er will
ämpfen fürs Vaterland und hängt sich an eine ganz un¬
nögliche Rache; er will sich rächen und verliebt sich statt
die Tat
essen in eine damonische Marquise; er will

es historischen Staps klingt an — Napoleon erdolchen und
ersticht ane Eisersucht seine Geliebte. Und auch seine
letzte, seine einzige Tat, die Verweigerung des Ver¬
sprechens, nichts mehr gegen den Kaiser zu unternehmen.
ist nur Eigensinn, unnötige Querköpfigkeit. Von dem
Schlußepigramm: Gott wollte ihn zum Helden schaffen.
der Lauf der Dinge macht einen Narren aus ihm, glauben
wir nur den letzten Teil. Der Wiener Seelenkenner,
der Meister der gebrochenen Charaktere und psychischen
Absonderlichkeiten, wollte ein Opfer der Phrase darstellen,
einen Schönredner, dem selbst der Tod mit einer hohen
Pose nicht zuteuer erkauft ist. Seine Galerie willensschwacher
Träumer wird dadurch um ein neues Bild bereichert:
aber es hat nicht den einheitlichen Stil, der den „ein¬
samen Weg“ zu einem abgeschlossenen Werk macht. Schnitzlers
„Historie“ fehlt die breite Kraft und der stürmische Schwung
des großen Geschichtsdramas, und so hat der Dichter seine
Reonisiten aus der historischen Rumpelkammer Sardous
borgen müssen. Die ganze Welt dieser nach Frankreichs
Krone strebenden Valoir, der Prinz, der mit dem Bürger¬
mädel ins Wasser geht, die Prinzessin, die sich bald als
Judith, bald als Kokette aufspielt, der blinde Herzog und
sein Hofstaat — alles ist bösestes Theater. Der echte
Schnitzler, der wahre und warme Dichter, leuchtet nur
aus der Schilderung des Wiener Bürgerhauses mit den
Prachtgestalten der Mutter und des Oheims, leuchtet aus
den feingemalten Genre= und Volksszenen, um die der
weiche Duft und die liebliche Anmut des Wiener Vor¬
märz schwebt. Kleinkunst an ein Monumentalgemälde
svenan, eine Heldenzeit ohne Helden — das ist Schnitzlers
Kunst und Welt. Es ist die unsere nicht mehr! Darum
wurde das Drame trotz trefflichstem Spiel, trotz den ent¬
zückendsten Detorationen von Karl Walser abgelehnt. Das
Erlebnis weniger Wochen hat uns der Stimmung vieler
Jahrzehnte weltenweit entfernt!
L.