II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 629

ten Vorstellung dem Andenken dieses toten
Dichters ein Dienst erwiesen ward, bleibe
dahingestellt. Gleichwohl würde dieses
Drama, wenn man Zeit hätte und Lust,
mehr Liebe und Sorgfalt darau zu wen¬
den, auch heute noch seine Wirkung auf das
Publikum nicht verfehlen, aber von einer
Wirkung auf das Publikum konnte gestern
wahrhaftig nicht die Rede sein. Schon die
erste Szene, von einer ganz stimmungs¬
losen und überflüssigen Ouvertüre einge¬
leitet, eine wundervoll seelisch abgestimmte
Liebesepisode, wie sie nur einem Dichter
einfallen kann, fand den Prinzen Valois
und die Bürgerstochter (Eidlitz und Frau
Ortner=Kallina) so wenig bei Stimmung,
daß diese Stimmungslosigkeit gleich auch
auf das spärlich erschienene Publikum
überging und den ganzen Abend hindurch
trotz mancher bemerkenswerten Leistung
nicht weichen wollte. Um gleich von den
Leistungen zu sprechen, die aus der Auf¬
führung hervorstachen, so wären vor allen
der prachtvolle, bis in die feinsten Details
ausgeerbeitete Herzog von Valois, Georg
Reimers and seine Tochter Helene, Frau
Johannsen, zu nennen: ein wirkliches und
wahrhaftiges Fürstenpaar! Diese zwei
Menschen waren auch der „Lichtblick des
mißglückten Abends. Im übrigen strotzte
die Vorstellung von Fehlbesetzungen. In
Frau Johannsen erwächst dem Burg¬
theater eine moderne Schauspielerin von
der Art der Roland. Der junge Herr Loh¬
ner in der Titelrolle blieb ohne die richtige
Führung, so daß der Gedanke auftaucht,
warum er seit den „Leoniden“ nicht mehr
dazu kommt, die Frage seiner Begabung
endgültig zur Entscheidung zu stellen. Da¬
mals stand Lohner allerdings unter der
starken Hand Albert Heines. In Episoden¬
rollen hielten Heine, Huber und Frau
Mayen stand, womit leider über diese Auf¬
führung so ziemlich alles gute gesagt ist.
Wer hat die Fehlbesetzungen zu verant¬
worten? Stammen sie von Herrn Röbbe¬
ling oder vom Regisseur Herterich? In
einem Falle müßte man wohl von Un¬
kenntnis des Burgtheaters sprechen, im
anderen Falle von einer Geringschätzung
der Wiener, für die eine solche Durch¬
schnittsvorstellung gerade gut genug zu sein
scheint. Damit, daß man alle acht Tage
eine Novität oder Neustudierung auf gut
Glück herausbringt, läßt sich, vielleicht,
einem Stadttheater zweiten Ranges, nicht
aber dem Burgtheater dienen. Frau Me¬
delsky, eine herrliche Charakterdarstellerin
(wie man in „Rauhnacht“ gesehen hat), ist
nun einmal keine Heldenmutter; den gan¬
zen Abend über mußte man an Frau
Bleibtreu denken; auch Herr Meyerhofer,
ein sonst ganz ausgezeichneter Komiker,
eignet sich gar nicht für den Eschenbacher.
Höbling wiederum, der kein Charakter¬
darsteller ist, hätte die Rolle mit Marr
tauschen müssen. Schließlich müßte man
den ganzen, ungefähr 70 Namen zählenden
Theaterzettel herunterbuchstabieren, um die
übrigen Fehlbesetzungen anzuführen. Unter
allen diesen im Theaterzettel verzeichneten
Personen, die zumeist unbekannt sind,
herrschte die unglaublichste Verwirrung der
Dialekte, vom Urwienerischen bis zum
Hochberlinerischen des Herrn Schütze. Man
schrie und bewegte sich nach Belieben, und
der Theaterzettel hätte wahrheitsgemäß
den Vermerk tragen müssen: keine Regie
— Herr Herterich!
R. L.
OBSERVER
österr. behördl. konzesionierten
Gmternehmen für Zestunge-Ausehmite
WIEN, I., WOLLZELIE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus: Inhaftennstin
A Wien
8.UA) 1332.
vom:
Die zweite Premiere: „Der junge
Medardus“ von Artur Schnitzler, neu¬
studiert im Burgtheater.
Es wäre der Mühe wert gewesen, dieses
schöne Werk wirklich neu zu studieren. Der junge
Medardus ist der österreichische Wilhelm
Tell. Unfähig der Tat, wird er doch zum Tun
getrieben, als „Narr seines Schicksals", und in
seiner Hand wird die Tat etwas andres, als er
wollte, etwas andres, als er sollte. Solch ein
Werk mit diesen abgründigen Erkenntnissen, mit
diesen wahrhaft geschauten Szenen und Figuren,
veraltet nicht von heute auf morgen. Ihr sprecht
vom österreichischen Schicksal? Hier, gerade hier
hat es ein Dichter gestaltet. Ihr wollt es nicht
wahrhaben, weil es nicht in die Legende, nicht
in die Lüge der Vergangenheit paßt — aber eben
deswegen ist das Drama nicht mit dieser Ver¬
gangenheit gleichzeitig untergegangen.
Eine dürftige Aufführung lehrt auch hier,
daß die Armut von der Powerté herkommt, von
der inneren geistigen Armseligkeit, die schärfer
in Erscheinung tritt als die verblaßten Deko¬
rationen und Requisiten. Manches ist geistig
erhalten geblieben, wie der Herzog von Valois,
dieses Grabdenkmal seiner selbst, von Georg
Reimers bewunderungswürdig dargestellt,
oder in kleineren Rollen Albert Heine,
Franz Höbling, Walter Huber, Hermann
Wawra, Fritz Straßni. Neu und gut in
kleineren Rollen sind Maria Kramer, Maria
Mayen, Gerda Dreger, Fred Hennings,
Hans Marr. Emmerich Reimers als Etzel,
beinahe ein Brackenburg, wahrt viel Haltung,
Lotte Medelsky als Frau Klähr müßte sich
nur vom letzten Rest einer Pathetik des Sprechens
befreien, um ausgezeichnet zu wirken; ihre
Schlußszene ist aufregend. Ferdinand Maier¬
hofer als Bürger Eschenbacher ist eine sonder¬
bare Fehlbesetzung, die seiner Begabung Abbruch¬
tut. Herr Lohner in der Titelrolle ist noch
immer sehr ungleich; wieviel könnte er unter
richtiger Anleitung gewinnen! Neu Ebba Jo¬
hannsen als Prinzessin von Valois. Ob Frau
Wohlgemuth, ihre Vorgängerin, und eine
sehr berühmte Vorgängerin, aristokratischer war,
wage ich nicht zu entscheiden, da ich in diesen
Belangen mich nicht zuständig fühle. Wohl aber¬
wage ich zu behaupten, daß Frau Johannsen der¬
größte Gewinn des Abends war.
D. B.