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Doch gewiß leitete Max Reinhardt der
Gedanke, das österreichische Volksgemüt dem
Norddeutschen jetzt ganz nahe zu bringen,
als er im Deutschen Theater Ferdinand
Raimunds „Alpenkönig und Menschenfeind“
aufführte. Leider bestätigte sich diesmal
Schopenhauers Wort, daß der gute Wille
allein in der Kunst nichts bedeute. Reinhardt
wurde zum Wiedertäufer, nicht bloß deshalb,
weil er dem lieben alten Stück einen neuen
Namen verlieh: „Nappelkopf“. Er drängte
ihm auch einen neuen Glauben auf. Er
machte, wie schon die Titelvignette andeutete,
aus dem leicht und licht gewobenen Spiel
der Phantasie eine schwere Charakter¬
komödie im Stil Molières. Raimund hatte,
mit echt wienerischer Selbstironie, die schmerz¬
lichen und pasquillanten Züge des Herrn
von Nappelkopf in der eigenen Brust geholt,
völlig unbekümmert um literarische Vor¬
bilder; Reinhardts Blick dagegen war auf
Shakespeares Timon von Athen gerichtet. Was
mußte das Ergebris sein? Bleigewichte, an
die beflügelte Dichtung gehängt, zerrissen das
zarte Gewebe. Durch einzelner Schauspieler
Verschulden blieb der Urwuchs des Wiener
Possenhumors versteckt. Kopf genug hatte
Raimund. Die Doppelgängerszene des letzten
Akts gehört zu den geistreichsten Feinheiten.
Doch Reinhardt ließ den seelenvollen Dichter
immer mit der Kopfstimme — sozusagen —
reden! Aufgeputzt mit den modernen Zauber¬
mitteln der Theatertechnik, büßte die Zauber¬
posse ihren echten Zauber ein. Ferdinand
Raimunds geniale Einfalt ist im deutschen
Norden niemals heimisch geworden. Diesmal
erst recht nicht.
Es kamen noch andere Österreicher
zu Wort. Anzengrubers „Kreuzelschreiber“
(Volksbühne), eines der wenigen klassischen
Lustspiele der deutschen Literatur, zündete
mächtig, obwohl der Steinklopferhans nicht
wiederzuerkennen war für die, denen er im
Andenken von Ludwig Martinelli und Anton
Jules fortlebt. Ein schreiiger Spaßmacher
vergriff sich an dem Philosophen von der
Straße. — Dieselbe Bühne geriet — weiß
Gott, wie! — auf den Einfall, Philipp
Langmanns trostlos ödes Wiener Volksstück
„Die vier Gewinner“ aufzuführen. Langmann
ist mit dem „Bartel Turaser“ dem herz¬
schnürenden Drama des Streikbrechers aus
Vaterliebe, einmal der große Wurf gelungen.
Seither nicht wieder. „Die vier Gewinner“
ein naturalistisches Milienstück strengster Ob
servanz, sind vier Verlierer.
Auch Arthur Schnitzlers Schauspiel aus
dem Wiener Napoleonsjahr 1809: „Der
junge Medardus“ wurde der Vellona als
Jahresregentin und dem Herzensbedürfnis
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Doch gewiß leitete Max Reinhardt der
Gedanke, das österreichische Volksgemüt dem
Norddeutschen jetzt ganz nahe zu bringen,
als er im Deutschen Theater Ferdinand
Raimunds „Alpenkönig und Menschenfeind“
aufführte. Leider bestätigte sich diesmal
Schopenhauers Wort, daß der gute Wille
allein in der Kunst nichts bedeute. Reinhardt
wurde zum Wiedertäufer, nicht bloß deshalb,
weil er dem lieben alten Stück einen neuen
Namen verlieh: „Nappelkopf“. Er drängte
ihm auch einen neuen Glauben auf. Er
machte, wie schon die Titelvignette andeutete,
aus dem leicht und licht gewobenen Spiel
der Phantasie eine schwere Charakter¬
komödie im Stil Molières. Raimund hatte,
mit echt wienerischer Selbstironie, die schmerz¬
lichen und pasquillanten Züge des Herrn
von Nappelkopf in der eigenen Brust geholt,
völlig unbekümmert um literarische Vor¬
bilder; Reinhardts Blick dagegen war auf
Shakespeares Timon von Athen gerichtet. Was
mußte das Ergebris sein? Bleigewichte, an
die beflügelte Dichtung gehängt, zerrissen das
zarte Gewebe. Durch einzelner Schauspieler
Verschulden blieb der Urwuchs des Wiener
Possenhumors versteckt. Kopf genug hatte
Raimund. Die Doppelgängerszene des letzten
Akts gehört zu den geistreichsten Feinheiten.
Doch Reinhardt ließ den seelenvollen Dichter
immer mit der Kopfstimme — sozusagen —
reden! Aufgeputzt mit den modernen Zauber¬
mitteln der Theatertechnik, büßte die Zauber¬
posse ihren echten Zauber ein. Ferdinand
Raimunds geniale Einfalt ist im deutschen
Norden niemals heimisch geworden. Diesmal
erst recht nicht.
Es kamen noch andere Österreicher
zu Wort. Anzengrubers „Kreuzelschreiber“
(Volksbühne), eines der wenigen klassischen
Lustspiele der deutschen Literatur, zündete
mächtig, obwohl der Steinklopferhans nicht
wiederzuerkennen war für die, denen er im
Andenken von Ludwig Martinelli und Anton
Jules fortlebt. Ein schreiiger Spaßmacher
vergriff sich an dem Philosophen von der
Straße. — Dieselbe Bühne geriet — weiß
Gott, wie! — auf den Einfall, Philipp
Langmanns trostlos ödes Wiener Volksstück
„Die vier Gewinner“ aufzuführen. Langmann
ist mit dem „Bartel Turaser“ dem herz¬
schnürenden Drama des Streikbrechers aus
Vaterliebe, einmal der große Wurf gelungen.
Seither nicht wieder. „Die vier Gewinner“
ein naturalistisches Milienstück strengster Ob
servanz, sind vier Verlierer.
Auch Arthur Schnitzlers Schauspiel aus
dem Wiener Napoleonsjahr 1809: „Der
junge Medardus“ wurde der Vellona als
Jahresregentin und dem Herzensbedürfnis
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