II, Theaterstücke 21, Komtesse Mizzi oder: Der Familientag, Seite 218

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21. KonHoderder Fani Lientan



Dann müßte aber auch anerkannt werden, daß
dadurch in Wien eine neue bessere Art ent¬
Berliner Theaterbrief
stand. Neue Wiener Kunstwerte. Und man
(Feuillelon der Budepester Presse.)
versteht sich nun auch in Wien auf Ibsen, man
gestaltet ihn sogar interessanter, lebendiger,
Berlin, 10. Februar.
weil man das Tempo weniger schleichend
Als einst — ach, es ist ja schon sc lange
nimimt und davon absicht, die Seele der Ibsen¬
her — Otto Brahm während der Sommermo¬
Menschen in unendlichen Pausen herumge¬
mate seine Leute nach Wien und auch nach
spenstern zu lassen.
Budapest führte, da wirkten seine Darbictun¬
Also zugegeben: man hat in Wien (viel¬
igen wie Offenbarungen einer neuen Kunst; und
leicht auch in Budapest) dem großen Berliner
Iden Leuten in Budapest erschien das, was
Kunstregisseur manches abgeguckt und es der
ihnen die Heimat beschert hatte, auf einmal
eigenen Individualität entsprechend uinge¬
klein und dürftig; und der und jener rief es
wertet. Ob aber auch die Berliner dies und das
recht laut hinaus, daß die eigenen Theater
von dem sich angeeignet, was in Wien und
sich an der Kunst Brahms bilden müssen Das
Budapest zu lernen war? Sich angeeignet und
Burgtheater stand den Wienern nicht mehr an
in die eigene Form gegossen? Die letzte Pre¬
der Spitze. „Ja, als das alle Haus auf dem
miere des Lessing-Theaters erschien wie eine
Michaelerplatz noch stand,“ meinten die Alte¬
Verneinung dieser Frage. Da häite sichs er¬
Tren, die es noch gekannt hatien, und die Jun¬
weisen müssen, Man gab zwei österreichische
gen, die eben zur Not wußlen, daß es einmal
Stücke, ein unzweifelhaft Wienerisches, denn
ein altes Burgtheater gegeben. Und das Deut¬
es ist von Schnitzler, und ein Tiroler Bauern¬
sche Volksthcater? Na ju, dort spielen sie ja
stück. Außerdem spielt in dem erstgenannten
ganz leidlich, aber was leisten dagegen die Ber¬
ein Ungar eine wichtige Rolle. Nein, die Berli¬
liner! So hieß es einst. Anläßlich der letzten
ner haben in Wien nichts gélernt. dafür schei¬
Gastspiele in Wien waren diejenigen, die die
nen die Österreicher unter den Darstellern die
fremde Kunst auf Kosten der heimischen so
heimatliche Art iotal vergessen zu haben. Da
sehr herabgesetzt hatten, schon etwas stille¬
ist zuerst Schnitzlers „Komtesse Mizzi“. In
geworden. Und sie behaupteten nur noch. das
Wien wirkte das Stückchen als liebenswürdige
keiner so wie Brahm Ibsen restlos auszuschöp¬
Frechheit. Dieses Komtessel, das ohne Skrupel
fen vermöge. Und darüber soll nicht gestriften
unmoralisch ist, verletzte nicht. Ach nein. es
werden. Nicht über Ibsen und nicht über
wurde begriffen und hundert oder tausend jun¬
Brahm. Es sei auch die Möglichkeit zugegeben.
daß die Berliner Kunst die Wiener befruchtete, I ge Damen und junge Männer zwischen zwan¬
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zig ung sechzig sympathisierten mit ihr. Was
wär hier in Berlin aus dem österreichischen
Komtessel geworden? Eine Triesch-Rolle. Diese
begabte, aber sehr einseitige Künstlerin spielte
auch diese liebenswürdige Sünderin, die soselt¬
sam leichtfertig ist, wie sie die junge Frau in
Das weite Land“ gespielt hatte —
S
Wie Eine der Thsen-Weiber, die bekanntlich sehr
komplizierte Seelen haben. Während doch das
Schnitzlersche Komtessel so gar nicht kompli¬
ziert ist, sondern klar und genau weiß, was #s
will: leben und sich lieben lassen um das, was
der konmnende Tag bringen mag; charakterlos
wie ein echtes Weib, konsequent nur in der In¬
konsequenz. Und in der Berliner Darstellung
wurde es derart seelisch belastet, daß es schier
zusammenbrach. Emanuel Reicher spielte den
famosen ungarischen Kavalier, der zu den le¬
bendigsten Männern gehört, die Schnitzler je
auf die Bühne brachte. Aber der vielgewändte
und vielgewanderte Berliner Künstler hatte
nichts von dem Charme der ungarischen Ari¬
stokraten. der pikante Anklang in der Sprache
wurde bei ihm so sehr vergröbert, daß man an
irgendeinen Provinzkomiker in der Rolle des
Zsupan Kalmän im „Zigeunerbaron“ erinnert
wurde. Nein. so spricht und gibt sich kein
Graf Pazmändv, am allerwenigsten einer, des¬
sen Tochter mit so frisiertem Mund hoch¬
Deutsch spricht.
Arf Schnitzler folgte Schönherr und zwar
mit scinem unerquicklichen Drama Erde“. Es
ist zu bekannt, als daß noch viel darüber zu