II, Theaterstücke 21, Komtesse Mizzi oder: Der Familientag, Seite 231

21. Kontesse Mizz1oder der FaniLientaß
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Bühne und Welt.
Knusperhexe ausgeliehen hatte: Herr Ziegel als fideler Nachfahr sämt¬
licher älteren Lustspielbonvivants standen darstellerisch Pate an der Wiege
dieses Familienkindes, die — da ein nachsichtiges Publikum zu entscheiden
— diesem Gör kein Grab geworden sein dürfte.
hatte
Richard Alexanders jüngste Novität „Alles für die Firma“
ist ein Hennequin= und Mannequin=Stück. Alexander — haben
seine Dichter in diesem sensitiven Damenschneider den Ausstieg Poirets
steht als männliche Venus am Gelbstern=Himmel

schildern wollen?
eines Pariser Konsektionshauses, dessen Toiletten=Hausdichter er ist. Un¬
ermüdlich als solcher, achtet er nicht einmal des Gebotes „Sechs Tage
sollst du arbeiten und am siebenten sollst du ruhen“. Denn auch an diesem,
von der Bibelzensur vorgeschriebenen Ruhetage ruht er zum mindesten nicht
allein, sondern bedient („alles für die Firma“) in seiner Kemenate die¬
jenigen Kundinnen mit Liebe, die sich sonst mit Roben, Zobelstolas und
dergleichen zufriedengeben müssen. Der letzte Akt zwingt dann den „Viel¬
geliebten“ nicht nur zu einer Wahl zwischen den ihm zulaufenden Hul¬
dinnen, sondern, sehr aktuellerweise, sogar zu einer Stichwahl, weil
Alexander genötigt ist, um den Hut einer Freundin vor den Augen ihres
Gatten zu bergen, sich zugleich auf die Kopfbedeckung, zugleich auf die der¬
selben entragenden langen Hutnadeln zu setzen (für die es in Paris also
scheinbar noch keine Jagowator=Schutzkapseln gibt). Immerhin: nachdem
sich der Damenschneider so in die Nesseln und in die Nadeln gesetzt hat,
hat er von der illegitimen Liebe genug und nimmt lieber im Schoße der
Ehe Platz, zugleich mit einem Tippfräulein, einer kleinen Montmartroise
vom Stamme der Crevetten, Musetten und Grisetten, die dem Unwider¬
stehlichen bisher als einzige die Kehrseite zu zeigen wagte. — Dieses Stück
zertrümmert nicht etwa beim ersten Ansturm mit Feydeauscher Wirbeltechnik
oder mit de Flersscher Wortgeschwindigkeit den Widerstand der Skeptiker,
die da meinen, daß auch die Franzosen heutzutage nicht immer mehr etwas
zu sagen haben. Später aber, wenn im Probiersalon neben den Lippen
auch die Hüften reden, wenn Alexander bei Zigeunermusik vom heiligen
Geiste der Toiletteninspiration beschattet wird, gewinnt die Sache an Schick
und Gefälligkeit. Nicht nur das Kostüm der hübschesten Mannequin,
sondern auch der Dialog hat dann die vom Publikum des „Residenz¬
theaters“ nun einmal verlangte „Laxfarbe“, und man spürt plötzlich unter
Larven sogar eine menschlich fühlende Brust, wenn sich der Süßholz¬
raspler vor der ewig gefüllten Liebesbonbonniere, die ihm das Leben reicht,
nach einer einzigen Grobheit, nach einer einzigen Ohrfeige sehnt. In
dieser Vorstellung wäre es freilich nötig gewesen, den mitarbeitenden Damen
nicht nur Roben, sondern auch Talent anzumessen. Aber Alexander trat
selbst in die Lücke, indem er nicht nur Hennequin, sondern auch ein bißchen
Maupassant spielte und, zumal in ersten Akt, dem Antlitz seines Schneider¬
virtnosen auch einige von den brutaleren physiognomischen Eigenarten des
„schönen Georg“ einzeichnete. Herr Sikla (der künftige Chef des „Re¬
sidenztheaters“) hatte mit liebenswürdigem Humor schon jetzt eine Prinzipal¬
rolle übernommen. Fräulein Sydow war ein resolutes Tipp= oder besser
Tip=Top=Fräulein und in der Anprobierszene eine gar ansehenswerte
„Madonna in — Dessous“
Bleibt also als einziges literarisches Aktivum in der Reihe der No¬
vitäten, mit denen ich mich diesmal hier zu beschäftigen habe, die Auf¬
führung von Arthur Schnitzlers einaktiger Komödie „Komteß Mizzi
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