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20. Zuischensniel
Neue Bücher
557
Es scheint hier, als ob Schnitzler aus einer Angst vor dem Publikum
Vorbeuge=Maßregeln anwendet, wenn er diesen Räsoneur von Stücken sprechen
läßt, bei denen man doch beruhigt nach Hause gehen kann, nachdem der Vor¬
hang gefallen ist; wenn er durch diesen geschwätzigen Mund den Zuhörern klar
macht, wie fein es ist, daß Cäcilie und Amadeus nicht ihres Kindes wegen den
Konventionsschluß des Beieinanderbleibens auf sich nehmen.
Es gibt einen Schriftsteller, dem solch Jonglieren, solch gleichzeitiges
Spielen mit den verschiedenen Gesichtern der Dinge, glänzend gelingt, das ist
der Ire Bernhard Shaw. An Shaw erinnert auch diese Räsoneur=Figur.
In der ausschließlich zerebralen, nur auf die Einfälle der Gehirnphantasie
aufgebauten Welt Shaws hat solches passende, ganze Existenz. Solche Figuren
sind die wahren Bürger dieser Welt: Esprit-Homunculi.
Aber Arkur Schnitzler, der den unvergessenen Einsamen Weg geträumt,
hat doch im eigentlichen noch ein anderes Reich voll dämmernderer Ferne.
Und wandelt er auch als ein Bewußter darin, so bleibt der lyrische Klang doch
unverloren.
Felix Poppenberg
∆
Neue Bücher
Das Tagebuch einer Verlorenen
Dieses Buch (Fontane & Ko., Berlin), das nunmehr bereits im 50. Tausend
in den Buchhandel gebracht worden ist, gehört zu jenen, auf die man nur aus
Grunden des äußeren Literaturlebens eingehen muß. Hier handelt es sich um
das meistgekaufte Buch des letzten Jahres. Das gebietet die nähere Be¬
trachtung. „Die Menschen sein schlechte,“ heißt's im hessischen Volkslied. Ich
sage das nicht in irgend einer moralischen Entrüstung mit frommem Augen¬
aufschlag, sondern einfach, weil ich mir nicht erklären kann, daß nicht jeder,
der dieses Buch gelesen, soviel Nächstenliebe besaß, um jeden anderen vor
der Lektüre desselben zu warnen. Ich habe noch selten eine schwerere Ent¬
täuschung erlebt. Ins Bergland hinauf, in dem ich den Sommer verlebte, war
die Kunde von dieser neuesten aufregenden Sensation der Großstadt glücklicher¬
weise nicht gedrungen, hier in Berlin erhielt ich dann vier Monate nach Er¬
scheinen des Buches ein Exemplar aus dem 35. Tausend. Fast gleichzeitig hatte
ich eine Erklärung Margarete Böhmes gelesen, in der sie etwas weinerlich senti¬
mental sich gegen den — soll man sagen Vorwurf — wehrt, das Buch selber
verfaßt zu haben. Sie sei in Wirklichkeit nur die Herausgeberin dieses von
einer toten Verlorenen stammenden Werkes. Der Titel verrät ja eigentlich
genug, um wen es sich handelt, und die Ankündigungen taten das übrige. Man
konnte nach alledem das Buch für eine Spekulation der pikanten Literatur
halten. Damit wäre ein solcher Erfolg aber doch wohl kaum zu erklären. Auch
heute, wo man selbst für reichlich ausgesprochene Pornographie den weit ge¬
nähten Mantel des Künstlerischen findet, pflegen derartige Werke doch mehr
auf den Hintertreppen des Literaturlebens in die Häuser zu gelangen, und auf
die Weise entstehen nun einmal keine sehr großen Auflagen. Außerdem pflegt
ja dann der Staatsanwalt bald sein unzureichendes Mittel der Buchanklage
anzuwenden. Das war hier nicht der Fall. Im Gegenteil konnte man auch
von ernst zu nehmenden Kritikern Arteile hören, daß das Werk tiefe Einblicke
20. Zuischensniel
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Es scheint hier, als ob Schnitzler aus einer Angst vor dem Publikum
Vorbeuge=Maßregeln anwendet, wenn er diesen Räsoneur von Stücken sprechen
läßt, bei denen man doch beruhigt nach Hause gehen kann, nachdem der Vor¬
hang gefallen ist; wenn er durch diesen geschwätzigen Mund den Zuhörern klar
macht, wie fein es ist, daß Cäcilie und Amadeus nicht ihres Kindes wegen den
Konventionsschluß des Beieinanderbleibens auf sich nehmen.
Es gibt einen Schriftsteller, dem solch Jonglieren, solch gleichzeitiges
Spielen mit den verschiedenen Gesichtern der Dinge, glänzend gelingt, das ist
der Ire Bernhard Shaw. An Shaw erinnert auch diese Räsoneur=Figur.
In der ausschließlich zerebralen, nur auf die Einfälle der Gehirnphantasie
aufgebauten Welt Shaws hat solches passende, ganze Existenz. Solche Figuren
sind die wahren Bürger dieser Welt: Esprit-Homunculi.
Aber Arkur Schnitzler, der den unvergessenen Einsamen Weg geträumt,
hat doch im eigentlichen noch ein anderes Reich voll dämmernderer Ferne.
Und wandelt er auch als ein Bewußter darin, so bleibt der lyrische Klang doch
unverloren.
Felix Poppenberg
∆
Neue Bücher
Das Tagebuch einer Verlorenen
Dieses Buch (Fontane & Ko., Berlin), das nunmehr bereits im 50. Tausend
in den Buchhandel gebracht worden ist, gehört zu jenen, auf die man nur aus
Grunden des äußeren Literaturlebens eingehen muß. Hier handelt es sich um
das meistgekaufte Buch des letzten Jahres. Das gebietet die nähere Be¬
trachtung. „Die Menschen sein schlechte,“ heißt's im hessischen Volkslied. Ich
sage das nicht in irgend einer moralischen Entrüstung mit frommem Augen¬
aufschlag, sondern einfach, weil ich mir nicht erklären kann, daß nicht jeder,
der dieses Buch gelesen, soviel Nächstenliebe besaß, um jeden anderen vor
der Lektüre desselben zu warnen. Ich habe noch selten eine schwerere Ent¬
täuschung erlebt. Ins Bergland hinauf, in dem ich den Sommer verlebte, war
die Kunde von dieser neuesten aufregenden Sensation der Großstadt glücklicher¬
weise nicht gedrungen, hier in Berlin erhielt ich dann vier Monate nach Er¬
scheinen des Buches ein Exemplar aus dem 35. Tausend. Fast gleichzeitig hatte
ich eine Erklärung Margarete Böhmes gelesen, in der sie etwas weinerlich senti¬
mental sich gegen den — soll man sagen Vorwurf — wehrt, das Buch selber
verfaßt zu haben. Sie sei in Wirklichkeit nur die Herausgeberin dieses von
einer toten Verlorenen stammenden Werkes. Der Titel verrät ja eigentlich
genug, um wen es sich handelt, und die Ankündigungen taten das übrige. Man
konnte nach alledem das Buch für eine Spekulation der pikanten Literatur
halten. Damit wäre ein solcher Erfolg aber doch wohl kaum zu erklären. Auch
heute, wo man selbst für reichlich ausgesprochene Pornographie den weit ge¬
nähten Mantel des Künstlerischen findet, pflegen derartige Werke doch mehr
auf den Hintertreppen des Literaturlebens in die Häuser zu gelangen, und auf
die Weise entstehen nun einmal keine sehr großen Auflagen. Außerdem pflegt
ja dann der Staatsanwalt bald sein unzureichendes Mittel der Buchanklage
anzuwenden. Das war hier nicht der Fall. Im Gegenteil konnte man auch
von ernst zu nehmenden Kritikern Arteile hören, daß das Werk tiefe Einblicke