II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 33

Im Lessing=Theater gelangte am vergangenen Sonnabend
das dreiaktige Schauspiel von Arthur Schnitzler „Der Ruf des
Lebens“ zur Erstaufführung.
Wienechriftsteller be¬
handelt in seinem neuesten Opus das Problem des Lebens
im Gegensatz zu dem des Todes, d. h. jenes Lebens, das für die
Betätigung seiner Triebe keine Grenzen kennt, die Sitte und
Gesetz gezogen haben. Sich ausleben ohne Rücksicht auf die
Mitmenschen, das ist die Parole auch der beiden Freundinnen
Marie und Katharina, die uns der Autor vorführt, und unter
Ausleben verstehen sie nichts anderes als den schrankenlosen
Liebesgenuß.
Die schwindsüchtige Katharina, welche die Hand des Todes
schon im Nacken fühlt, taumelt von Mann zu Mann, und ein
besonders perverses Vergnügen empfindet sie bei dem Schäfer¬¬
stündchen, mit dem Leutnant von Albrecht bei den blauen
Kürassieren, weil sie weiß, daß ihre Zärtlichkeiten die letzten sind,
die dieser Offizier von einem Weibe genossen. Denn auf An¬
regung seines Obersten hat das Offizierkorps der blauen Kü¬
rassiere den feierlichen Eid geleistet, bei dem bevorstehenden
Feldzuge mit dem ganzen Regimente bis auf den letzten Mann
in den Tod zu gehen, um eine Schmach zu tilgen, die seiner
Fahne dadurch zugefügt wurde, daß die Oesterreicher vor dreißig
Jahren infolge der feigen Flucht dieses Regiments eine Schlacht
verloren. Marie dagegen, des alten Mosers Tochter, führt
bei ihrem schwer kranken, unerträglich zänkischem Vater das
freudlose Dasein mechanischer, ihr bis in den Tod verhaßter
Pflichterfüllung. Wohl erklang auch ihr einmal der Ruf des
Lebens, als sie auf einem Balle mit dem blauen Kürassier¬
leutnant Max die Nacht durchtanzte, allein seiner Bitte um ein
Stelldichein gab sie aus Feigheit keine Folge, trotz jäh erwachter
Leidenschaft zu ihrem flotten Tänzer. Tag und Nacht ver¬
zehrt sie sich nun nach ihm, bis die blauen Kürassiere in den
Krieg ziehen, vorbei an den Fenstern ihrer Wohnung, und
der Hausarzt, der eine hoffnungslose Liebe zu Marie im Herzen
trägt, ihr das Evangelium des Egoismus predigt, wobei er
ihr dringend rät, nur an sich und ihr Glück zu denken. Das
schlägt Mariens letzte Bedenken nieder und das von Leidenschaft
zerwühlte Weib zögert denn auch nicht länger, ihrem Vater
von den Schlaftropfen so reichlich ins Wasserglas zu gießen,
daß der Alte auf ewig die Augen zumacht, nicht ohne der Tochter
in der vorhergehenden Szene verraten zu haben, daß gerade er es
gewesen sei, der vor dreißig Jahren als Rittmeister durch seine
Feigheit die Flucht der blauen Kürassiere verschuldet habe.
Jetzt endlich ist Marie frei, und sie stürzt geradewegs in die
Kaserne, um sich ihrem Leutnant Max an den Hals zu wersen.
Der hat aber schon ein Liebesverhältnis mit der Gattin seines
Obersten und wird gerade von diesem bei dem letzten Rendez¬
vous mit der Ehebrecherin überrascht. Kurzer Hand schießt
der Oberst sein Weib nieder und geht dann verächtlich aus
dem Zimmer indem er den Leutnant seiner Reue überläßt.
Schon ergreift der die Pistole, um sich eine Kugel durch den
Kopf zu jagen, da tritt Marie hinter einem Vorhang hervor,
wo sie die ganze furchtbare Szene belauscht hat und bietet sich
ihrem geliebten Max dar, der nicht lange zögert und sie für
die paar letzten Stunden seines Lebens hinnimmt; rasch hüllt
er sie in einen weißen Kürassiermantel ein und läuft mit ihr
ab. Wie wir dann im setzten Akte erfahren, hat er Marie bei
grauendem Morgen
issen, um in die Kaserne zurückzukeh¬
ren, wo er an der Leiche seiner noch immer in der Stube lie¬
genden Frau Oberst durch Selbstmord endet. Sein Regiment
aber hält den Schwur und fällt bis auf den letzten Mann auf dem
Schlachtfelde. Katharina stirbt auch im letzten Akt und zwar
an ihrer Krankheit; nur Marie, die vor einem freiwilligen
Ende zurückscheut, lebt ihr freudloses Dasein weiter, wobei es
sie am fleisten kränlt, daß sie ihrem Leutnant Max nichts
weiter gewesen ist, als eine Dirne für eine Nacht! Zum Glück
aber ist der Doktor wieder da, der fortwährend salbungsvolle
Reden hält, aber dabei Ansichten zum Besten gibt, die ihn mit
dem Staatsanwalt in Konflikt bringen müssen. Er kennt alles,
was Marie auf dem Gewissen hat, aber da er das Recht des
Lebens predigt, so findet er weder an dem Vatermord noch an
der abenteuerlichen Liebesnacht etwas besonders Verabscheuungs¬
würdiges; das Mädchen folgt eben dem Rufe des Lebens,
das Vergangene ist auf ewig vergangen, und vielleicht, wer weiß,
war alles nur ein Traum
Gleich Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Dörmann
usw. hat auch Schnitzler in seiner Vaterstadt vollkommen ab¬
gewirtschaftet, weil die Wiener das Krankhafte und Verlogene
seiner Stücke nachgerade satt bekamen. Früher, in seinen Erst¬
lingswerken, verteidigte er seine nihilistischen Ansichten wenig¬
stens noch mit eigenem Witz und Geist, aber wir machen bei ihm
wieder die Erfahrung, daß der Dichter, der nur eine Saite
auf seiner Leier hat, bald zu Ende ist mit seiner Kunst. Bicht
nur, daß Schnitzler im „Ruf des Lebens“ bereits sich
selber und andere kopiert, er verfällt auch immer mehr in
die Manier einer fürchterlichen Salbaderei, die das Werk von
Anfang bis zu Ende mit einer bleiernen Langeweile belastet.
Auch die Darstellung stand nicht auf der Höhe der sonstigen
schauspielerischen Leistungen des Lessing=Theaters. Nur Herr
Bassermann als Oberst und Herr Marr als der alte Moser ver¬
mochten aus den Schnitzler'schen Marionetten lebenswarme
anderen Künstler fanden
schaffen, die
zu
Menschen
sich dagegen nur schlecht und recht mit ihren Rollen ab, was
allerdings begreiflich erscheint. Dies gilt besonders von Herrn
Rittner, der den Forstadjunkten mit einer Wurstigkeit herunter¬
deklamierte, als wollte er damit zeigen, wie wenig er von dem
Stücke halte. Hauptmann, Sudermann, Hofmannsthal, Hirsch¬
feld und Schnitzler, wie lange wird sich Herr Direktor Brahms
J. St—g.
noch in diesem Zirkel drehen?