II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 39

Dersllian hul ein Lieververzältnie mit der zueden
Frau seines nicht mehr ganz jungen Obersten.
Also
auch diese beiden gehorchen dem „Rufe des Lebens“.
Und
zwar so, daß die Oberstenfrau in der Nacht vor dem Ab¬
marsch des Regiments zu dem Leutnant in sein Dienstzimmer
eilt, ihn zu einer Flucht mit ihr, der Geliehten, zu
bestürmen. Just vor ihr ist die Marie ebendort angekommen
und hat sich rasch hinter einem Vorhang verborgen. Doch der
Oberst hat Wind. Und dringt in das Leutnantszimmer —
durchs Fenster! — wo er die zwei Schuldigen ertappt. Kurze
Zwiesprache. Dann schießt der Oberst seine Frau nieder und
laßt den Leutnant mit der Leiche zurück. Gelassen, wie ein
Rächer seiner Ehre aus dem Quattrocento! Marie aber tritt
aus ihrem Versteck hervor und wirft sich dem Leutnant hin.
Wieder hat das Leben „gerufen“. Viertens: Alles ist vor¬
über. Der Leutnant hat sich nach der Liebesnacht zur Leiche der
Oberstengaltin zurückbegeben und sich eine Kugel in den Kopf
geschossen. Sein Regiment ist in die Schlacht gerückt und total
vernichtet. Marie hat Zuflucht bei ihrer Tante in einem nieder¬
österreichischen Dorfidyll gefunden. Katharina, die der „Ruf des
Lebens“ zur Dirne gemacht hat, kehrt gebrochen und am Geiste frank
in das Heim der Mutter zurück und stirbt dort in Mariens
Armen. Marie aber soll, jauß und wird lehen. Allsolches
redet ihr der Arzt und Freund ihres Hauses p., der um den
Giftmord weiß und die Spuren der Tat verwischt hat. Und
der wackere Forstadjunkt ist auch noch da und, wie es scheint,
bereit, der Marie die Mörderin und die Buhlerin zu ver¬
zeihen. Also das Leben ruft abermals, wenn auch nicht mehr
stürmisch, sondern in der Weise eines milden Sonntagnachmittags¬
predigers. Wird Marie auch diesem Rufe sich fügen?
Leider fällt der Vorhang. Und die Frage bleibt offen.
Also, es passiert etwas in diesem Schauspiel von Arthur
Schnitzler. Es flammen starke Leidenschaften. Es mordet
eine Tochter ihren Vater, eine Rächerin und Sklavin ihres
heißen Blutes zugleich. Es tötet ein Soldat seine treulose
Gattin, um die Tat alsbald vor dem Feinde an der Spitze
seiner Reiter zu sühnen. Es opfert sich ein junger Leutnant,
nach des Satzes noblesse oblige dringendem Gebot. Eine
düstere Tragik waltet, welche in der Verkettung der Umstände,
die die Tochter zur Mörderin des Vaters werden lassen, fast
einen antiken Hauch verspüren läßt. Wenn Sie das auch „kon¬
struiert“ nennen, meine Herren! Muß doch der Dramatiker
ein sorglicher Konstrukteur sein. Hat etwa Friedrich v. Schiller
nicht „konstruiert“? Freilich besinnt sich Arthur Schnitzler manch¬
mal zu lebhaft darauf, daß er ein geistreicher Mann ist. Der
alte, dem Tode verfallene Vater der Marie, der Arzt mit dem
weiten Gewissen, der betrogene Oberst der „blauen Kürassiere“,
zwei Leutnants aus den Tagen des österreichisch=piemontesischen
Feldzuges von 1849; sie alle reden Arthur Schnitzler und
halten dadurch gute dramatische Absichten unliebsam auf.
Harsch und rauh sollen die Tage sein, deren Bild und
Stimmung uns der Dichter gestaltet und vorführt, romantisch,
wild, zum va banque! allstündlich bereit. Sehr schön! Aber
dann, bitte, etwas knapper und kürzer in Rede und Gegen¬
rede, militärischer, forscher, deutlicher, mehr Kommandoton ...
Die feinen Schauspieler des Lessing=Theaters waren
sichtlich mit ungleichen Neigungen bei der Sache. Famos
Herr Marr als alter Vater der Marie, ein Bild des Ab¬
scheus und des Jammers zugleich, ein Gebrochener, vom
Leben beiseil Gestoßener, ein Stück erschütternder Tragik,
packend in allen Ausdrucksmitteln. Prachtvoll Frau Irene
Triesch als die gedrückte und gequälte, dann auflodernde,
rächende, sich hingevende und endlich ruhig ihre Tat tragende
Marie, ein Sturmlied der Leidenschaft. Vornehm und ritterlich
liebenswürdig der jugendliche Herr Kurt Stieler als Leutnant.
Analysierend geistreich, wie immer, und in Maske und Haltung
höchst charakteristisch Herr Bassermann als Oberst der „blauen
Kürassiere“. Minder schienen sich die Herren Reicher und
Rittner mit ihren Rollen befreundet zu haben. War jener
als Arzt Dr. Schindler gar zu monoton auf die Art eines
Konfirmandenunterricht haltenden Pastors gestimmt, so spielte
Herr Rittner als Forstadjunkt fast den ganzen Abend in jener
Manier, die man sonst à part nannte. Das war nicht sehr
höflich gegen das Publikum, das in Herrn Rittner einen Voll¬
menschen weiß und liebt. Frau Eise Lehmann gab der
Gestalt einer lebensfrohen Tante der Marie genug von ihrer
Farbenfülle, und Frau Grete Hofmann spielte die Tochter
Katharina mit einer aus der Seele schöpfenden Kunst, die noch
mancherlei verheißt. Frau Else Schiff und Herr Alwin
Neuß als Gattin des Obersten und als meditierender zweiter
Leutnant fügten sich in den Rahmen des Ganzen verstandnis¬
voll ein. Der Regie (Herr Emil Lessing), wie stets auf dieser
Bühne, ganzes Lob! Die Dekoration des dritten Aktes
(blühender Garten, dahinter grünende Wiese, dunkler Tannen¬
wald, Gebirgsgipfel in der Ferne) war eine Meister= und
Musterdarbietung, eine wunderhübsche Augenweide. Wie Duft
noch Rosen und Flieder. Bravo, Herr Walser! Und
Erfolg? Ja! Nach dem ersten Akt stark und unisono.
Dann etwas durch Zischen bestritten. Aber Erfolg! Arthur
Schnitzler erschien nach jedem Akt mehrmals vor dem